Paarprobleme bei einem Börsencrash

Auf dem Bärchenmarkt

Neulich wurde Mike im Café von einer Frau abgeschleppt – nur weil er ihr erzählt hatte, dass der Kursverfall der Telekom-Aktie ihn fast ruiniert habe. Dabei besitzt er überhaupt keine Aktien. Aber als vermeintlich in Deutschland übel hereingelegter Ami ließ er sich nichtsdestotrotz gerne trösten, kommt er doch aus einem Land, in dem man inzwischen sogar versucht, sich seine Phantomschmerzen mit Geld heimzahlen zu lassen.

So lassen sich dort jetzt, wie die Financial Times berichtete, viele Paare „angesichts des so genannten Bärenmarktes an der Börse“ nicht mehr scheiden, weil ihre wechselseitigen Ansprüche aus der Ehe durch Aktienverkäufe nicht mehr zu befriedigen sind. Andere Ehepaare wiederum drängen nun erst recht auf Scheidung. So fühlte sich eine Ehefrau in Milwaukee regelrecht betrogen, weil sie mit ihrem Mann vereinbart hatte, nur 25 Prozent ihres Kapitals an der Technologiebörse zu investieren – er sich aber nicht daran gehalten hatte.

Bei immer mehr Eheberatern, Psychologen und Mediatoren geht es derzeit nur noch um das eine: die Aktienkurse. Eine Scheidungsanwältin ezählt: „Man kriegt hysterische Schriftsätze von der Gegenseite, die besagen: Verkaufen!“ Immer häufiger versuchen in Scheidung lebende Paare ihre Anlagestrategien auch gerichtlich durchzusetzen: „Ein Alptraum für die Familiengerichte“, so die Anwältin.

Aber auch ein Alptraum für die Familien selbst, die ihre Gefühle anscheinend zur Gänze in Firmen investiert haben – und dann noch in die falschen: „Ich habe Enron vertraut und ihnen alles gegeben“, so ein enttäuschter Kleinanleger aus Wisconsin. In der BRD sind viele sauer auf den DDR-Schauspieler Manfred Krug („Die Spur der Steine“!), weil er sie „getäuscht“ hat – mit seiner allzu sympathischen T-Aktien-Werbung. Unter den etwa 300.000 Besitzern einer Eigentumswohnung auf Kredit wird derzeit erwogen, die BayernHypobank wegen Betrugs zu verklagen, denn die meisten Wohnungen stehen leer – und die Mietgarantien sind verfallen.

Mit solchen enttäuschten Hoffnungen hat sich das Beziehungsmodell komplett umgedreht – gleichzeitig wird in der Liebe immer schärfer kalkuliert. Der Nürnberger Marxist Robert Kurz wurde dieser Tage von der Zeitschrift konkret gefragt, ob „das amerikanische Jahrhundert“ etwa zu Ende gehe – er antwortete: „So fragen Anlageberater immer, nämlich nach Gewinnern und Verlierern. Eine radikale Krisentheorie dagegen stellt das gemeinsame Beziehungssystem in Frage.“ Es ist die Rede von der allseitigen Durchdringung der Beziehungen mit Marktverhältnissen. Ausgehend von der primitiven (Hin-)Gabe hat Jacques Derrida einmal gesagt, dass das (Liebes-)Geschenk „die Ökonomie außer Kraft setzt“, weswegen die Erwiderung einer Liebe eigentlich ihr Unglück sei. Das Glück liege mithin in der reinen Verausgabung – sodass jedes Kalkül sie tendenziell auslösche. Von dieser gemeinschaftsstiftenden Seligkeit bis zum Bärenmarkt der heutigen Beziehungsbörsen war es ein dornenreicher Weg.

Am Beispiel der Verdi-Oper „Tosca“ hat der Ökonom Rappoport schon mal die Kosten durchgerechnet. Es geht hierbei darum, dass der Polizeichef Scarpia der schönen Tosca verspricht, ihren Geliebten Caravadossi freizulassen, wenn sie mit ihm schläft. Er denkt jedoch gar nicht daran, den Rivalen am Leben zu lassen. Tosca wiederum verspricht, sich Scarpia hinzugeben, um Caravadossi zu retten. Sie will jedoch dessen Freilassung ohne diesen Liebesdienst erreichen. Für den Ökonomen in der Oper ist deswegen klar: „Weder für Scarpia noch für Tosca gibt es ein Argument, dass es besser wäre, den Markt zu respektieren – also ein ehrliches Spiel zu spielen –, als den anderen zu verraten.“

Und nun zur Preisbildung: Ausgehend von einem Gewinn von plus 5, kostet es Tosca minus 5, mit Scarpia zu schlafen, es bringt ihr aber plus 10, Caravadossi das Leben zu retten. Eine Täuschung Scarpias bei gleichbleibenden Preisen brächte ihr jedoch plus 10 ein (plus 10 für Caravadossi und plus 5 dafür, „der Umarmung Scarpias entkommen zu sein“). Der Ökonom schreibt ihr plus 10 an, weil es zwar wirklich unangenehm ist, Scarpia nachzugeben, aber nichts zu tun „ganz einfach gleich 0 ist“ – daher 0 plus 10 und nicht plus 5 plus 10.

„Ist diese Wertsetzung gerecht?“ – Eine unbeantwortbare Frage, man kann aber sagen, „dass der Gewinn einer Entscheidung, der mit plus 10 beziffert ist, für Tosca zwar hoch genug ist, um sie zu interessieren, aber noch so niedrig, dass sie zögert: Plus 15 würde zu einer unmittelbaren Entscheidung führen! Auf der anderen Seite ist es die gleiche Gewinnminderung, die Scarpia dazu bringt, Caravadossi zu erschießen, wenn er von Tosca bekommt, was er begehrt.“ Das Ende der Geschichte sprengt jedoch – überraschend – den ganzen Handelsrahmen: Tosca tötet Scarpia! Demnächst auch in der Deutschen Oper.

HELMUT HÖGE