Bildmaschinen bei der Arbeit

Kriegführung und Massenkultur durchdringen sich wechselseitig, sei es an Oder und Elbe, sei es in Bad Reichenhall oder Erfurt. „Entsichert“ beschreibt, wie diese Vereinigung den Medien zu verdanken ist und schon vor dem 11. September begann

Egozentrische Subjekte verwandeln Bühnen und Straßen in Schlachtfelder

von KLAUS WALTER

Es gibt Bücher, die werden von den Ereignissen überholt, und es gibt Bücher, die werden von den Ereignissen bestätigt. Und dann gibt es Ereignisse, die einem Buch wie bestellt zusätzliche Wucht verleihen. Neben Slobodan Milošević, Leonardo Di Caprio und Jimi Hendrix gehören Martin Peyerl und die Oder zu den Protagonisten von „Entsichert“. Dabei ist die Erinnerung an die berühmten 15 Minuten des Martin Peyerl schon verwischt. Er hatte am 1. November 1999 in Bad Reichenhall in einem massenmedialen Akt par excellence ein halbes Dutzend Menschen er- bzw. angeschossen, darunter den bekannten Schauspieler Günter Lamprecht nebst seiner weniger bekannten Kollegin Claudia Amm. Aber dann kam Robert Steinhäuser, der in seinem Erfurter Gymnasium ein noch größeres Blutbad mit noch größerer Sinnstiftungs-Fallhöhe anrichtete und eine breitere Öffentlichkeit mit dem Wort „Ego-Shooter“ bekannt machte. Da war „Entsichert“ schon geschrieben.

Die Oder generierte 1997 erstmals massenkulturell wirksame Bilder von deutschen Soldaten – noch nicht: Soldatinnen, das sollte der Elbe 2002 vorbehalten sein – an der Heimatfront beim Kampf gegen das Hochwasser. Mit der Aufgabe wuchsen die Moral der Truppe und ihr Ansehen in der Bevölkerung. Dass der Krankenstand während der Fluteinsätze so niedrig war wie nie zuvor ist, eine von vielen scheinbar unnützen Informationen, die das Buch zu einem zwingenden Puzzle über den „Krieg als Massenkultur im 21.Jahrhundert“ arrangiert.

Seit diesem Sommer wissen wir, dass alle Soldaten tätowiert und gut gebaut sind, inklusive der neuen Soldatinnen. Die Elbflut mit ihren ungleich größeren Wasser- und sonstigen Massen trübt die Erinnerung an Helmut Kohl beim Besuch an der „Oder inmitten von jungen, blendend und überhaupt nicht nach traditionellen Kämpfertypen aussehenden Soldaten; dann Roman Herzog inmitten von ebensolchen“. Beim Lesen schieben sich neuere Bilder von Schröder und Stoiber im Combat-Look vor Kohl und Herzog. Zugleich bekommen die Passagen über die Oder und den Amokläufer von Bad Reichenhall prophetische Qualitäten – es sollte noch schlimmer kommen, wie wir heute wissen.

Die unter den Chiffren Erfurt und Elbflut gespeicherten massenmedialen Events brachten zur weiteren Kenntlichkeit, was anhand ihrer kleineren Vorläufer in „Entsichert“ beschrieben ist. Die wechselseitige Durchdringung von Krieg und Massenkultur im Zeichen von Krisen und Katastrophen hat bereits vor dem 11. September 2001 begonnen, ebenso wie die Produktion der zahlreichen Kriegsfilme, die in diesen Tagen über uns kommen. Die Anschläge funktionieren im Namen des „globalen Einberufungsbescheides“, wie Holert und Terkessidis die allgemeine psychische und physische Mobilmachung nennen.

Erfurt und Bad Reichenhall wurden zu „Bürgerkriegsschauplätzen“, an Oder und Elbe enstand eine „neue Ostfront“: „Die Koordinierungsstelle heißt nun „Operationszentrale“, Klassenzimmer werden zu „Gefechtsständen“, Deiche zu „Verteidigungslinien“. Der Stern berichtet von der „Schlacht an der Oder“, „Wie im Krieg“ titelt der Spiegel. „Dann haben wir den Krieg gegen die Elbe gewonnen“, verkündet ein Flutkämpfer aus dem „Einsatzgebiet“.

Für „Entsichert“ haben die Autoren aktuelle und ehemalige Kriegsschauplätze bereist. In Vietnam und im Kino fanden sie Spuren des „ersten massenkulturellen Krieges“, in Priština und Tetovo erlebten sie „westliche Bildmaschinen“ bei der Produktion von Kriegsimages. Die Reise endet bei der Mutter aller symbolischen Schlachten, am Ground Zero. Zum Personal von „Entsichert“ gehörte eigentlich auch der New Yorker Feuerwehrmann Tiernach Cassidy, doch sein Kriegskörper-Denkmal wurde zu spät fertig. In einer neun Monate währenden Prozedur, komplementär zum Babyboom nach 9/11, ließ er sich die brennenden WTC-Türme mitsamt den Namen von fünf toten Kollegen auf den Rücken tätowieren und posierte mit Helm unterm Arm vor dem Sternenbanner: „Ich konnte niemanden mehr retten, später konnte ich nichts mehr geben außer Schmerz.“

„Mimetische Hyperindividualisten“ wie den Feuerwehrmann Cassidy spüren die Autoren an den entlegensten Orten auf, fantasievolle bis durchgeknallte Body-Designer und Symbol-Warrior, Prototypen einer „Neudefinition von Körperlichkeit und Männlichkeit, von Authentizität und Genuss unter den Bedingungen einer Kultur der Extreme und der Wunde“. Neben mehr oder weniger normalen Militärs marschieren auf: Hooligans und „bellikose Hedonisten“, der Soldat Elvis und der Fight Club, der Kriegsgangster Arkan und der Gangsta-Rap-Krieger Tupac. „Egozentrische Subjekte, die sich selbst das Mandat erteilen“, verwandeln Büros und Studios, Bühnen und Straßen in Schlachtfelder, in der Regel als hoch dosierte Egotaktiker im Hamsterrad der entfesselten Konkurrenz, jenseits der Regel als Amok laufende Egoshooter.

Beschleunigt durch die desintegrative Dynamik der allfälligen Deregulierungen verschwimmen die Unterschiede zwischen Taktiker und Shooter zusehends, „die neoliberale Subjektivität auf der Ebene des Individuums ist eine kriegerische“, so der Befund von „Entsichert“. Mit Heraklit ist der Krieg wieder Vater aller Dinge, mit Darwin überleben im „molekularen Bürgerkrieg“ nur die Fittesten. Gegen Selbstaufrüstungs- und Ermächtigungsstrategien aus dem Katalog des Military Entertainment klingt ein Begriff wie „Solidarität“ so uncool wie das treuherzige Konzept „Abschreckung“ gegen die Erstschlagsdoktrin des George W. Bush.

Schrittmacher des militärisch-darwinistischen Paradigmenwechsels sind ausgerechnet Popstars. Im Bilderbuch leihen sie den Erniedrigten und Beleidigten ihre Stimme, deuten aber blöderweise den Umstand, dass sie es geschafft haben, überhaupt Gehör und Kundschaft zu finden, als Beleg dafür, dass das Haifischbecken ganz o. k. ist. Im deutschen HipHop verträgt sich ein tribalistischer Vitalismus, der Gesellschaft als fortgesetzten Gang-War versteht, vorzüglich mit einer verblasenen Frömmelei. Und beinhartem Geschäftssinn. Im Stile eines Gotteskriegers inszeniert der Berliner Rapper DJ Desue seinen Kreuzzug: Mit Machiavelli nennt er sein Album „The Art Of War“. „Bringe deine Soldaten in Positionen, aus denen es keinen Fluchtweg gibt“, rät seine Website. Desues Lebenslauf heißt „Feldzug“, das Gästebuch findet sich unter „Army“.

Moses P. mit „Der Herr ist groß“ und Xavier Naidoo mit „Alles für den Herrn“ sind die Pioniere des neoliberalen Religions-Warrior-HipHop und wurden vor Jahren vom damals noch dezidiert linken Popmagazin Spex mit einer freundlichen Coverstory gefeiert. Der Autor war Mark Terkessidis. Mit „Entsichert“ ist er rehabilitiert.

Mark Terkessidis/Tom Holert: „Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert“, 180 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2002, 9,90 €