„Es ist eine erbärmliche Sucht“

Die Heldin in Karen Duves neuem Roman „Dies ist kein Liebeslied“ leidet unter Essstörungen. Karen Duve weiß, worüber sie schreibt: Ein Gespräch über Magersucht, über das Aufwachsen in einem Vorort – und über die Frage, warum Mädchen eigentlich keine Mixkassetten für Jungen aufnehmen

Interview SUSANNE MESSMER

taz: Frau Duve, in Ihrem neuen Roman „Dies ist kein Liebeslied“ gibt es eine wichtige Szene, in der die Ich-Erzählerin Anne ihre verflossenen Liebhaber noch einmal überdenkt – anhand der Mixkassetten, die sie einmal für sie aufgenommen haben. Warum machen Mädchen eigentlich nie solche Kassetten für Jungen?

Karen Duve: Diese Frage führt noch weiter zurück, nämlich dahin, warum Mädchen sich überhaupt weniger Musik machen. Ich verstehe das auch nicht. Wahrscheinlich haben sie zu Schallplatten und CDs eher eine hedonistische Einstellung. Aber den Männern die Musik zu überlassen, ist noch ein schlimmerer Fehler, als dass wir ihnen das Feuer überlassen haben. Ich erinnere mich, wie in meiner Schule einmal eine Band gespielt hat und alle Mädchen überlegten, wen von der Band sie am liebsten mochten. Da merkte ich plötzlich, dass ich keinen Bassisten oder Schlagzeuger abkriegen, sondern selbst da oben stehen wollte. Aber dann habe ich das nie verfolgt. Ich bin also auch nicht besser. Schande, Schande über uns.

Und jetzt haben Sie die Musik wiederentdeckt?

Ich habe während der Arbeit an dem Buch angefangen, wieder mehr CDs zu kaufen, was nicht nur an dem Thema des Romans lag, sondern auch daran, dass mich das Goethe-Institut nach Vietnam eingeladen hatte. Dort fühlte ich mich ein bisschen ausgesetzt, nichts und niemand war vertraut. Nur die Jungen, die in kleinen Straßenläden Raubkopien von CDs verkauften, waren genau so wie die Musikfanatiker, die ich aus Deutschland kannte. Die sind wahrscheinlich überall auf der Welt gleich. Am Ende bin ich mit einem Koffer voller CDs zurückgekommen.

Sie beschreiben in Ihrem Buch auch sehr eindrücklich die Demütigungen des Sportunterrichts. Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, wäre dann einer, dass der Sportunterricht nie erfunden worden wäre?

Nein, das habe ich jetzt ja hinter mir. Eher würde ich mir wünschen, sportlich zu sein. Ich würde zum Beispiel unheimlich gern Schlittschuh laufen können. Wenn ich jemanden sehe, der gut Schlittschuh laufen kann, werde ich sofort neidisch. Ich versuche mich damit zu trösten, dass derjenige wahrscheinlich einen miesen Jobs hat und sein Leben lang morgens früh aufstehen muss. Gleichzeitig weiß ich doch, dass er in diesem Moment, in dem er so elfengleich über das Eis schwirrt, eine Art von Glück empfinden muss, das mir für immer verschlossen bleibt.

Anne, Ihre Heldin, hat Essstörungen. Die Szenen, in denen es um ihre bulimischen Anfälle und später um ihre Fettsucht geht, sind auf der einen Seite leicht und witzig beschrieben, auf der anderen Seite aber auch sehr brutal. Woher wissen Sie so viel über Essstörungen?

Woher wohl? Der Versuch, weniger zu werden und auszusehen wie alle anderen, hat mir den größten Teil meines bisherigen Lebens versaut. Heute bin ich todtraurig darüber, denn in Wirklichkeit bin ich natürlich schlank und sehr hübsch gewesen, ohne es jemals gewusst zu haben und ohne daraus den allergeringsten Vorteil ziehen zu können. Ich glaube, dass es sehr vielen Frauen so geht. Sie bleiben ihr Leben lang in einer Warteschleife hängen, warten die ganze Zeit darauf, dass sie endlich richtig, endlich schlank genug sind, damit das Leben losgehen kann. Aber eine Frau ist niemals schlank genug – und, zack, ist das Leben vorbei. Ich ärgere mich, dass Esstörungen von Frauen in Filmen und Romanen fast immer bagatellisierend behandelt werden. Ungelebtes Leben ist doch kein Witz.

Können Sie bestätigen, wie Bulimikerinnen oft beschrieben werden, dass sie sich als schwach und hilfebedürftig empfinden, aber stark wahrgenommen werden wollen, dass sie in einen Konflikt geraten, weil sie einerseits einem mütterlichen Frauenbild und andererseits einem erfolgreichen, selbstständigen genügen wollen?

Ich habe nie den allergeringsten Impuls gefühlt, mütterlich zu sein. Das hat mich nicht daran gehindert, mich übers Klo zu hängen. Mir erschien das nicht als Krankheit. Zuerst dachte ich sogar, ich hätte so etwas wie den gordischen Knoten gelöst – ich konnte essen, ohne die Konsequenzen tragen zu müssen. Allerdings hat Kotzen natürlich etwas Beschämendes, Würdeloses. Überhaupt ist es eine erbärmliche Sucht. Rauchen auch. Wenn schon süchtig, dann sollte man sich halluzinogene Drogen aussuchen.

Wenn man davon ausgehen würde, dass Bulimie genauso wie Hysterie eine Modekrankheit ist, könnte man dann nicht hoffen, dass sie mit dem Frauenbild, mit dem sie zusammenhängt, wieder verschwindet?

Da müsste sich das Frauenbild aber massiv wandeln. Ich fürchte, das liegt in weiter Ferne. Es geht um Attraktivität und darum, geliebt werden zu wollen. Sich schlank zu hungern, ist ein Akt der Anpassung, weil dick sein Ausgrenzung heiß, Verlust an sozialem Status, den man als Frau auch mit Geld und Erfolg nicht wettmachen kann.

Aber ist es nicht so, dass man überhaupt erst bulimisch werden kann, wenn man erfährt, dass es diese Krankheit gibt?

Ich habe das schon gemacht, bevor ich davon gelesen habe. Und Sissi war auch schon magersüchtig, bevor es diesen Begriff gab.

Anne wächst in der Provinz auf, zieht aber später nach Hamburg und erzählt ihre Geschichte auf einer Reise nach London. Ist Ihr neuer Roman trotzdem ein Provinzroman?

Auch. Der Roman spielt am Anfang in einem Vorort von Hamburg. In einem Vorort aufgewachsen zu sein, ist viel schlimmer, als vom Land zu kommen. Das behaupten wenigstens Freunde von mir, die in Dithmarschen aufgewachsen sind. Ein Unterschied ist natürlich, dass Frauen auf dem Land meistens im bäuerlichen Betrieb mithalfen. In einem Vorort der 60er- und 70er-Jahre war es eine absolute Ausnahme, wenn eine Mutter mitgearbeitet hat. In der Großstadt sah das wahrscheinlich schon wieder ein bisschen anders aus.

Sollten junge Mädchen wie Anne also besser in größeren Städten als in Vorstädten aufwachsen?

Das ist doch egal. Vor allem sollten sie in einer liebevollen Familie groß werden, die sie in dem, was sie tun, unterstützen und bestärken.

Ist Barnstedt, der Ort, an dem Anne aufwächst, auch der Ort, in dem sie aufgewachsen sind?

Barnstedt gibt es nicht, hat aber gewisse Ähnlichkeiten mit dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin.

Warum leben Sie jetzt wieder in der Provinz?

Mich hat die Stadt sehr angestrengt, ich wollte Tiere halten, einen Garten haben, und wenn ich nachts rausgehe, mal vernünftig die Sterne sehen können und nicht nur Schlieren. Ich will die Möglichkeit haben, ein isoliertes Leben führen zu können. Feste Mauern, ein Wassergraben, Nato-Stacheldraht drumherum.

Wie lange haben Sie an diesem Buch geschrieben?

Sehr lang. Nachdem ich am Regenroman fünf Jahre geschrieben habe, wollte ich diesmal was Kurzes machen, vielleicht 140, 160 Seiten. Husch, husch, halbes Jahr, schon wieder ein neues Buch draußen. Die Geschichte sollte in London spielen, wo ich 1996 während des Halbfinalspiels der Fußball-Europameisterschaft gewesen bin, und sie sollte von einer Frau handeln, die völlig andere Sorgen hat als den Ausgang des Spiels, weil sie seit 15 oder 20 Jahren in denselben Mann verliebt ist. Unglücklich natürlich. Irgendwann hab ich gemerkt, dass ich das motivieren muss und dass das Motiv nicht in den Vorzügen des Mannes gefunden werden kann. Also begann ich, ein paar Rückblenden einzubauen, die Rückblenden wurden immer maßloser, und dem Buch erging es wie Anne, beide wurden immer dicker und dicker, und irgendwann hatte ich das halbe Buch fertig, 680 Seiten. Meine Lektorin war ganz reizend und sagte, ich soll mal weitermachen, wir würden dann die Geschichte später freilegen. Das konnte ich deuten. Ich habe dann nicht weitergeschrieben, sondern erst mal gekürzt. Ich habe die Arbeit von Monaten gestrichen. Wie in der Magersucht. Ich konnte gar nicht mehr aufhören. Bis es mir die Lektorin weggezogen hat.

Also kann keine Rede davon sein, dass Sie unbefangener schreiben als Ihre männlichen Kollegen, wie Ende der Neunzigerjahre oft behauptet wurde, als Sie noch zu den so genannten Fräuleinwundern gezählt wurden.

Schön wär’s. Ich arbeite, bis mir das Blut unter den Fingernägeln hervorspritzt. Ich tue mich so schwer, schreibe den ganzen Vormittag über bloß drei Sätze und verbringe den Nachmittag damit, fünf wegzustreichen.

Das ist erstaunlich, wo sich Ihr Buch doch wegliest wie nichts.

Es hat keinen Spaß gemacht, das Buch zu schreiben.

Davon merkt man nichts. Man muss oft lachen.

Ich habe nicht sehr gelacht, während ich es schrieb.

Nach dem Regenroman haben Sie einmal versprochen, dass Sie jetzt mal eine Liebesgeschichte schreiben wollen, in der alles gut ausgeht.

Da habe ich gelogen.

Sie haben gesagt, dass Sie die Geschichten schreiben wollen, die Sie mit zwölf schon hätten schreiben wollen.

Diese Buch ist nicht das Buch, das ich mit zwölf hätte schreiben wollen. Das allererste, das ich so mit zwanzig Jahren geschrieben habe, waren Märchenromane. Eine sehr naive, und, ich glaube, spezifisch weibliche Angelegenheit: Märchen. Während ich an diesem Roman saß, ging es mir zwischendurch so dreckig, dass ich nicht weiterarbeiten konnte und stattdessen wieder ein Märchen angefangen habe, in dem vermutlich alles gut ausgehen wird. Mit Prinzen und Prinzessinnen und sogar einem Drachen. Das habe ich in dieser ganzen Finsternis, in der ich da herumgestapft bin, gebraucht.

Würden Sie sich als feministische Autorin bezeichnen?

Ja. Allerdings. Übrigens ist Feminismus nicht nur sehr schick, er macht auch schlank. Falls jemand darauf Wert legt.

Können Sie sich vorstellen, noch einmal eine Diät zu machen?

Ich? Abnehmen? Für Männer? Bin ich bescheuert?