Walk Like an Arbeitsloser

Aki Kaurismäki ist der diesjährige Douglas Sirk-Preisträger des Filmfests: Er nimmt ihn ironischerweise bei der Aufführung von „Der Mann ohne Vergangenheit“ entgegen – denn der ist gar nicht so melodramatisch wie frühere Filme des Finnen

Hier wird auf einmal in die Zukunft geblickt, und das nicht mal pessimistisch.

von CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK

Wo schon ein irgendwo angelehnter Kopf unglaubliche melodramatische Wucht entfalten kann, da befindet man sich unzweifelhaft im wunderlichen Kosmos des Aki Kaurismäki. Der Sabbeltasche aus Finnland, die sich zuletzt mit dem Stummfilm Juha für zu viel reden selbst bestrafte (taz, 15.2.1999), wird am Freitag auf dem Filmfest Hamburg der Douglas Sirk-Preis verliehen.

Als würdiger Erbe des großen Hollywood-Melodramatikers mit Geburtsort Hamburg hat sich Kaurismäki paradoxerweise deshalb erwiesen, weil er seinen Darstellern dramatische Gesten untersagt. Nie hat er eine geballte Faust in Großaufnahme gezeigt, wenn es um mehr ging als eine leere Kaffeedose, wie 1994 in Tatjana – Take Care of Your Scarf. Das Melodramatische eines „Kaurismäki“ erzeugt sich vielmehr wie von selbst: aus dem Zusammentreffen einer gezeigten Situation und der an Filmen anderer geschulten Haltung der Zuschauer.

Und ausgerechnet Kaurismäkis jüngster Film, der jetzt vorab auf dem Filmfest zu sehen ist, unterläuft dieses Funktionsprinzip seiner Vorgänger. Hellhörig macht allein schon, dass der erklärte Nostalgiker ihm den Titel Der Mann ohne Vergangenheit gegeben hat – wo doch die Sehnsucht nach der Vergangenheit im Psychohaus die Zimmernachbarin dramatischer Gefühle von Liebe und Verlust ist. Doch hier wird auf einmal in die Zukunft geblickt, und das nicht mal pessimistisch.

Gedächtnis – und Namen – verliert Der Mann (Markku Peltola), als er in einem Park der finnischen Hauptstadt von einer jugendlichen Schlägerbande überfallen wird. Im Krankenhaus erklärt man ihn alsbald für tot. Doch plötzlich erhebt er sich, biegt sich noch schnell die Nase zurecht – die braucht man schließlich, damit beim Rauchen unter der Dusche die Zigarette nicht nass wird – und geht. Nein, dieser Zombie schlurft nicht, im Gegenteil, er ist sehr fidel und sogar ambitioniert.

Vorerst aber packt ihn die Erschöpfung, an den Kais wird er von zwei Jungen aufgegabelt und zu ihnen nach Hause gebracht. Die Familie wohnt in einem Container, doch das ist nicht schlimm. Schon bald, so geht nämlich ein Gerücht, nehme man wieder Anträge für Sozialwohnungen an, so dass in ein, zwei Jahren dies Leben ein Ende haben könnte. Und einmal die Woche, da wird geduscht und rein in den Anzug: „Heute ist Freitag, da gehen wir essen!“ verkündet aufgeweckt der Familienvater. Der dank der guten Pflege Genesene folgt ihm. Und landet in der Schlange vor dem Suppentopf der Heilsarmee, wo er sich in Irma (Kati Outinen) verguckt.

Der Mann ohne Gedächtnis ist Kaurismäkis zweiter Film seiner Trilogie über Arbeitslosigkeit und wie deren erster, Wolken ziehen vorüber (1996), in Farbe gedreht. Auf stilisierende 50er-Jahre-Töne hat er hier wie dort nicht verzichtet, doch die gewohnt ostalgischen Enterieurs finden in der Containersiedlung mit Blick aufs Meer nicht mehr ganz so viel Raum wie zuvor. Verantwortlich zu machen für die Armut ihrer Bewohner ist niemand mehr. Wo in Wolken ziehen vorüber noch Vetternwirtschaft im Bankengewerbe die Restaurantchefin zur Geschäftsaufgabe und fristlosen Entlassung ihrer Angestellten zwingt, sind nun sogar die Banken selbst zum Spielball unsichtbarer globaler Kräfte geworden. Das muss der Boss einer Baufirma schmerzlich erfahren, als er mit Waffengewalt sein gesperrtes Konto plündern will, um seine Arbeiter auszuzahlen: Das meiste Geld ist längst fortgebracht, die Bank pleite.

Für gewöhnlich haben sich Kaurismäkis männliche Figuren in der Melancholie eines von Pomade und Schnaps gesättigten Halbstarkentums eingerichtet. Jetzt fahren sie immer noch Wolga oder Buick, es ist aber nicht mehr das eigene Auto. Noch immer hören sie Rock‘n Roll, doch das ist nicht genug. Der Mann ohne Vergangenheit – als Untoter kaum mehr als eine Spur derselben – will Rock‘n‘Roll-Manager werden, was zusammen mit der auf flotte Rhythmen getrimmten Kapelle der Heilsarmee auch einigermaßen gelingt. Was solls, kein Name, kein Pass, kein Job, keine Stütze: Es gibt doch Arbeit in der Schattenwirtschaft. Zurück zu Sozialstaat und Nokia will hier niemand mehr. Die überraschend neue Haltung dieser Figuren: Die Verluste sind gezählt, mal sehen, was kommt, nostalgisch waren wir lange genug.

Fr (mit A. Kaurismäki, K. Outinen und M. Peltola), 19.30 Uhr, Cinemaxx; außerdem Sa, 22.30 Uhr, Abaton