Exportschlager Verunsicherung

Auf Monitoren machen Paratroopers Jagd auf Indios, und Wände werden mit menschlichem Fett bestrichen: Mexikanische Kunst boomt. In Berlin zeigen die Kunst-Werke jetzt Arbeiten aus einem Land, in dem der Körper oft das einzige Kapital ist

von HARALD FRICKE

In den USA hat man Angst, dass der „schlafende Drache“ aufwacht. Dann könnte es passieren, dass die Latinos als derzeit größte Minderheit im Land mehr Einfluss auf das politische System fordern wie die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung der Sechzigerjahre. Schon jetzt drängt eine Kunstszene aus Mexiko auf den US-Markt und wird dort mit erstaunlich viel Wohlwollen aufgenommen. Im Juni gab es eine von Klaus Biesenbach kuratierte Ausstellung mit 17 aus Mexiko-Stadt stammenden Künstlern, die – immerhin vom Museum of Modern Art unterstützt – im New Yorker PS.1 gezeigt wurde und die nun in den Berliner Kunst-Werken zu sehen ist. Zeitgleich hat das Haus der Kulturen der Welt fast zwei Dutzend Künstler aus Mexiko eingeladen, die Magali Ariloa vom Museo Carillo Gil in Mexiko-Stadt auswählen durfte. Begleitet wird dieses One-Nation-Festival von Lesungen und Filmen bis hin zu DJ-Events, deren Aufzählung allein ein 64-seitiges Magazin füllt (www.mex-artes-berlin.de). Daraus ergibt sich eine verwirrende Situation: Der Nachholbedarf in Sachen inneramerikanische Verhältnisse könnte plötzlich international zu einem gewaltigen Mexikoboom führen.

Ein solcher Durchmarsch war zuletzt nur den Young British Artists gelungen. Damals stand Damien Hirst mit zerlegten Kälbern für den unbedingten Willen, sich über Schock und Gewalt künstlerisch ganz weit vorne zu positionieren. In Mexiko erledigt Santiago Sierra den Job des bad guy: Nachdem er 1998 eine Galerie abfackelte und den Brand per Fotos dokumentierte, hat er sich auf Performances verlegt, bei denen Arbeitslose, Bettler und Illegale für einen Minimallohn stumpfsinnige Handlungen durchführen müssen. Mal ließ Sierra drogenabhängigen Prostituierten für eine Hand voll Dollars Linien auf den Rücken tätowieren, mal heuerte er Behinderte von der Straße an, die in einer Galerie unentwegt traditionelle Mariachi-Musik spielten.

Offensiv übersetzt Sierra so soziales Elend aus dem Alltag in die Kunst. Das ist eine doch sehr schlicht gestrickte Stilisierung ökonomischer Zwänge. Trotzdem sieht Biesenbach darin eine Wahrnehmung von Realität, die dem Westen in seinem Wohlstand abgeht. In Mexiko ist der Körper oft das einzige Kapital, das dem Großteil der unter dem Existenzminimum lebenden Bevölkerung bleibt, so Biesenbach. Deshalb soll seine Ausstellung „die Wechselkurse von Körpern und Werten“ aufzeigen und die Erschütterungen verdeutlichen, die die Globalisierung losgetreten hat. Sierras lebende Armutstableaus wären demnach Zerrspiegel, in denen der Betrachter eigene Verfehlungen erkennen darf. Dazu passt auch Biesenbachs Entscheidung, Ivan Edezas grobkörniges Found-Footage-Video am Schluss des Parcours zu präsentieren, das Paratrooper mit Großkaliberwaffen bei der Jagd auf Indios zeigt: Erst in der Abbildung des realen Todes findet die Kunst Gewissheit über das, was sie aussagen will, aber nicht herzustellen vermag. Gefährlich ist an dieser Logik nicht die Unbeirrbarkeit, mit der Elend zur einzigen Währung wird, die den Austausch bestimmt. Vielmehr irritiert, wie hier die Stereotype der Bedrohung, der staatlichen Korruption und der latenten Gewaltbereitschaft für ein Mexikobild benutzt werden, das sich am schuldbewussten Blick von außen orientiert. Wer ist beteiligt? Und wer betroffen? Ich, du, wir alle oder doch ganz andere? Dieser Konflikt bleibt seltsam unscharf und lässt so die Verunsicherung wie einen Exportartikel wirken, der gruselt und dennoch moralisch fit macht: Teresa Margolles hat in den Kunst-Werken eine Wand komplett mit menschlichem Fett bestrichen, das bei Schönheitsoperationen abgesaugt wurde – aus welchem Land die Patientinnen (oder sind es Patienten?) stammen, wird nicht gesagt. Im Haus der Kulturen der Welt ist von Margolles ein Raum mit verdampfendem Wasser eingenebelt worden, in dem vorher Leichen gewaschen wurden – der Schwarzhandel macht’s eben möglich.

Solche Lebensbrutalität mag in Berlin der Abschreckung dienen. Sie sagt wenig über Reaktionen, die der behavioristische Kunst-Terror in Mexiko auslöst. Dort scheint die Oberschicht von der Straße nichts mitzukriegen, das sieht man auf den Fotos von Daniela Rossell: Blonde Beauty-Queens räkeln sich in Luxusappartments, die ihnen ihre reichen Männer eingerichtet haben. Arbeiten, wie sie in Berlin gezeigt werden, überhaupt mexikanische Kunst, findet man in diesen Häusern nicht, wohl aber französisches Porzellan, Art-déco-Design und ausgestopfte Berggemsen. Alle wollen, was der Westen hat, egal ob als Kontroverse oder als Trophäe.

Mit einer Arbeit ist es Santiago Sierra übrigens doch gelungen, den Streit in die Nachbarschaft zu tragen. Auf Einladung des Kunstmuseums im kolumbianischen Cali hat er Arbeiter im Akkord eine Fahne nähen lassen, die die gesamte Front des Hauses verdeckte. Fünf Tage hing das Wahrzeichen, dann wurde es aus Sicherheitsgründen abgenommen, nachdem jemand Feuer gelegt hatte. Nicht aus Ärger über die Verhältnisse vermutlich, sondern wegen des Symbols: Es war die Flagge der USA.

Bis 1. 12.: Haus der Kulturen der Welt; bis 7. 12.: Kunst-Werke Berlin