Erkennt, was euch Europa gibt!

von ALFRED GROSSER

Seit Jahrzehnten versuche ich vergeblich, den französischen Medien das deutsche Wahlsystem zu erklären. Wahlkreise und Erststimmen – trotzdem entspricht es einer Verhältniswahl. Und dann erst die Überhangmandate! Diesmal ging es einfacher. Erstens wegen Hans-Christian Ströbele. Nicht wegen des Slogans „Ströbele wählen heißt Fischer quälen“, sondern wegen des Vergleichs zwischen Erststimmen (der Grüne 31,5%, der SPD- Kandidat 29,3%) und Zweitstimmen: SPD 39,2%; Grün 23,3%). Zweitens, weil die SPD mit dem britischen Mehrheitswahlrecht Triumphe gefeiert hätte: 171 Wahlkreise gegen 125 für die CDU/CSU (darunter ganz Bayern außer einem der Münchener), einer für die Grünen, zwei für die PDS.

Warum nun ist diese Partei gescheitert? Dazu eine Vorbemerkung: Im Gegensatz zu dem, was von ihr selbst behauptet und was in Frankreich oft von ehemaligen DDR-Verehrern gesagt und geschrieben wurde, ist sie nie die Alleinvertreterin, noch nicht einmal die Vertreterin der „Ossis“ gewesen, außer vielleicht im ehemaligen sowjetischen Sektor von Berlin. Sie war es doch für viele. Von denen jedoch eine Menge weggelaufen ist. Nicht nur zur SPD. Die Aufstellung der Wahlbeteiligung nach Ländern liefert eine klare Aussage. In Westdeutschland lag sie zwischen 81,6% (Bayern) und 78,9% (Bremen). In Ostdeutschland betrug sie zwischen 74,8% (Thüringen) und 68,7% (Sachsen-Anhalt). Die meisten sind aber doch zur SPD gewechselt, wobei zwei Gründe anzuführen sind.

In Berlin (Bundestag) und in Schwerin (Landtag) hat François Mitterrand gesiegt. Als er 1981 Präsident wurde, erklärte er der Sozialistischen Internationale, dass das Mitregieren der KP gerade durch die Mitverantwortung den roten Partner ersticken würde, was auch geschehen ist. Gysi als Wirtschaftssenator, der ständig erklären muss, dass Sparen die höchste Regierungstugend sei und dass versucht werden sollte, fremdes Kapital so zu begünstigen, dass in Berlin investiert werde: War nicht dies nicht noch mehr als die absurde Miles-and-More-Affäre der Grund seines Rücktritts? Und wie schön hat doch Harald Ringstorff gesiegt – über die PDS! Aber auch woanders ging es ähnlich aus, was die zweite Erklärung nötig macht: Die Kluft zwischen den beiden Teilen der Bundesrepublik wird langsam zugeschüttet und die DDR-Nostalgie wird von den jüngeren Generationen nicht übernommen. Der PDS war es eben nicht gelungen (hat sie es versucht, wie Brie es wollte?), sich so zu erneuern, dass sie bei Wahlen siegen könnte, etwa wie die verwandelte Partei in Polen.

Ein knapper Sieg, eine ganz kleine Mehrheit im Bundestag mit einem feindlichen Bundesrat: Was nun? Funktionierte die Länderkammer, das heißt, blockierte sie, wie angekündigt, könnte man nur staunen. Wer ist Edmund Stoiber? Der große Verteidiger der Länderhoheit oder der „Einpeitscher“ einer Bundespartei, der bereits in der Ausländerdebatte den saarländischen Ministerpräsidenten dazu beglückwünscht hat, sich gegen seine Überzeugung dem Fraktionszwang zu unterwerfen – als sei der Bundesrat ein Ableger des Bundestags? Der Kanzler wird allerdings aufs Neue versuchen, finanzschwache CDU-Länder durch handfeste Vorteile föderalistisch und nicht parteipolitisch zu stimmen.

Die knappe Mehrheit birgt ein großes Risiko, aber auch Chancen: Man muss zusammenhalten oder, im Fall des Kanzlers, zum Zusammenhalten aufrufen. Nur dem Partner gegenüber? Keineswegs. Die Grünen sind zwar besonnener geworden (man vergleiche Trittins Auftreten 1998 und 2002!), aber bleiben viel reformbereiter als die biederen SPD-Mitglieder – was für Schröder ein Mittel sein könnte, die Verkrustungen in seiner Partei aufzuweichen.

Der große Verlierer zeigt sich nach der Wahl viel besonnener als erwartet. Angela Merkel wurde dank Edmund Stoiber zur Siegerin über Friedrich Merz – das zeigt, dass man in der CDU die Messer beiseite lässt oder wenigstens vorläufig versteckt. Auch um den Preis, dass diese Lösung anderen den Weg zur Kanzlerkandidatur versperrt, zum Beispiel dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, der in Paris erklärt hatte, es sei eine Ausnahme, dass ein CSU-Mann die Gesamtpartei im Wahlkampf vertrete.

Und die FDP, die von 18% geträumt und geredet hatte? „Möllemann ist schuld daran“ – so sagt es Guido Westerwelle. Aber seine Schuld ist doch bei weitem größer. Zynischer ging es nicht: „Ich will unbedingt wieder der Schwanz sein, der mit dem Hund wedelt, sei der Hund schwarz oder rot.“ Man durfte so sprechen, wenn man Walter Scheel oder Hans-Dietrich Genscher war, eine klare Politik nach innen oder nach außen vertrat, was ein Verlassen von Kiesinger oder von dem von seiner Partei verratenen Helmut Schmidt rechtfertigte. Natürlich hat Möllemann noch spektakulärer und viel brutaler das FDP-Porzellan zerschlagen. Aber man sollte doch näher hinsehen und zwischen dem gezielten Appell an niedrige Gefühle und einigen Feststellungen, die nicht nur Unwahrheiten enthalten, unterscheiden. So wie man es bei der Friedenspreisrede von Martin Walser tun konnte.

„Sie dürfen das sagen!“ – allzu oft ist mir das in Deutschland als deutsch-jüdisch Geborener erwidert worden, wenn ich wieder einmal die israelische Politik als mitleidlos und kontraproduktiv bezeichnet habe. Wie auch in Frankreich gibt es in Deutschland die ständige Anklage, jede Kritik weise auf Antisemitismus. Auch der nüchterne, warmherzige ehemalige Sozialminister Norbert Blüm musste sich jüngst diesen Vorwurf gefallen lassen. Viele haben die echte Überzeugung, nach Auschwitz dürfe kein Deutscher Israel kritisieren. Häufig wird man von dem Zeigefinger eingeschüchtert, der ständig von draußen gegen Deutschland erhoben wird, von der Keule, die, wie es in diesem Punkt von Walser richtig gesagt wurde, bei jeder Kritik drohend geschwungen wird. Zugleich ist, vor allem im Vergleich mit dem undankbaren Frankreich, die deutsche Dankbarkeit für die USA (Befreiung 1945, Berliner Luftbrücke, Marshall-Hilfe) zu Recht groß. Aber zwingt die Dankbarkeit zum ständigen Jasagen – nicht zu den USA, sondern zum jeweiligen amerikanischen Präsidenten?

Beides hängt zusammen. Man sollte doch ruhig die systematische Unterstützung Israels durch den amerikanischen Präsidenten angreifen. Das heißt nicht, die mörderischen, verbrecherischen Attentate gutzuheißen. Während des Algerienkrieges habe ich oft die grausamen Attentate der Freiheitsbewegung gebrandmarkt (die Verstümmelung der Leichen der ermordeten Männer, Kinder und Frauen), aber auch gesagt, dass dies die französische Politik der Folter, der Zerstörung der Dörfer durch Sippenhaft nicht besser machte. Warum dürfte man nicht sagen, dass nach dem 11. September leider Wladimir Putin und Ariel Scharon die Erlaubnis erhalten haben, verallgemeinernd eine ganze Bevölkerung in Tschetschenien und in Gaza oder in den „Gebieten“ so zu behandeln, als handle es sich um ein Kollektiv von Terroristen?

Und so zu sprechen, wie es jüngst Al Gore getan hat, um George W. Bush seine abenteuerliche Irakpolitik vorzuwerfen, ist kein Antiamerikanismus. Gerhard Schröder hat zunächst dieselbe Stellung wie Jacques Chirac eingenommen. „Wenn Amerika allein den Angriff beginnt, dann nein. Wenn die UNO einen Beschluss fasst, dann müssen wir sehen wann, wie, bis wohin wir Militärisches zur Verfügung stellen.“ Dies wird ihm Stimmen gebracht haben. Dann ist er aber fortgefahren mit „Auf keinen Fall!“ Das war ein ziemlich demagogischer Appell an das alte „Ohne uns“, das seit Bosnien, Kosovo, Afghanistan überwunden zu sein schien. Es wird eher Stimmen gekostet haben: Auf der Linken war damit nichts mehr zu holen, mit Ausnahme einiger, die sich sonst der Stimme enthalten hätten. Aber wie viele CDU-Wähler haben nun der Versuchung widerstanden, für Schröder zu stimmen? Es wird nicht leicht sein, die alte Verbundenheit mit Washington wiederherzustellen, vor allem wenn Berlin weiter eine eigene Meinung zur Irakpolitik haben will.

Das könnte in Abstimmung mit Frankreich geschehen, anders als bei der Agrarpolitik oder bei den Vorstellungen über die zukünftigen europäischen Institutionen. Hier käme man sich näher, wenn man gestehen würde, dass der Wahlkampf in beiden Ländern auf beiden Seiten anti- oder zumindst uneuropäisch geführt worden ist. „Ja, wenn die böse Kommission nicht wäre!“ In Paris, in Berlin und auch in München sollte doch klar erkannt und dann laut gesagt werden, was man alles an der europäischen Union schon hat – die in all ihren Institutionen bereits so viel schöpferische Einheit geschaffen hat, dass es sinnlos ist, so zu tun, als würde man nationale Hoheitsrechte erst in der Zukunft aufgeben. Der berühmte deutsch-französische Motor steht still, weil ihm kein Benzin gemeinsamer Vorschläge zugefüllt wird. Meine Vorschläge an die Vorschlagenden: Zunächst, stimmt euch ab, um dem Konvent von Giscard d’Estaing einen gemeinsamen schöpferischen Plan für die Institutionen der Union vorzulegen (und verzichtet dabei auf sterilen Streit um Begriffe: die Union ist ein Objekt „sui generis“). Und zweitens: Sprecht keine großen Worte, sondern sagt zusammen nur einen Satz : „Wir erkennen an, dass das nationale Hauptinteresse von Frankreich und von Deutschland der Fortschritt der europäischen Einigung ist.“ Erst dann kann man sich wirklich nach Osten öffnen und weniger heuchlerisch Polen gegenüber sein („Kommt schnell, aber wir bauen ständig neue Hindernisse auf!“), sowie nüchtern, das heißt ohne allzu viel Rücksicht auf die CSU-beherrschte sudetendeutsche Landsmannschaft, von Prag verlangen, dass man dort einen anderen Ton anschlägt, nicht jedoch eine feierliche Verneinung der Beneš-Dekrete.

Nur ein Wunsch zum Schluss: dass die Regierung staatsmännisch handeln und sich nicht lahm legen lassen möge durch die Demoskopen einerseits und durch die Hessenwahl 2003 andererseits!