Dürrenmatt hat ganz sicher Recht

Am 20. Oktober endet die Expo.02. Die Schweizer Landesausstellung erhielt allgemeines Lob. Doch Unterhaltungspopulismus und Clubmedspiele, die das spielerische Auslöschen von Plastikmasken verlangen, stehen dagegen. Eine Momentaufnahme

Die Besucher und Besucherinnen schlagen auf die Gesichter einDie jungen Männer erzählen Herrenwitze, die die älteren gar nicht mehr kannten

von MARLENE STREERUWITZ

1. August in der Schweiz. Das war heuer der 711. Geburtstag der Nation. „Happy Birthday Schweiz“ und „La Suisse existe“, titelte das Journal der Expo.02 und versprach Facetten der Schweizer Identität zu zeigen. An diesem Nationalfeiertag.

Am ersten August. In Biel. Da ist die erste Facette die Security, auf die man oder frau trifft. Das Papierarmbändchen mit dem Strichcode wird einem nur um das rechte Handgelenk befestigt. „Rechts.“ Heißt es. Laut und barsch. Und so geht man oder frau gleich ein bisschen heruntergemacht auf das Gelände.

Das Wetter ist schlecht. Regen und Sturm. Die Leute drängen sich in die Restaurants. Lateinamerikanische Musik kommt aus den Lautsprechern der Restaurants. In der Ferne. Am See. Die „Türme der Macht und der Freiheit“ von Coop Himmelblau. Gemeinsam symbolisieren diese Türme die Verantwortung der Demokratie. So steht es im Expo-Führer. Das ist Architektentalk und bedeutet hoffentlich nicht wirklich etwas. Die Freiheit in dem einen phallischen Symbol. Die Macht im anderen. Ist dann Verantwortung der Belagerungszustand von Macht und Freiheit. Oder muss man eine Rapunzelfantasie ausleben, um zu dem einen oder dem anderen zu kommen.

Ein Regenguss treibt mich in das Restaurant des Kantons Wallis. Ein kleines Raclette. Ein kleines Glas Epes. Blasmusik. Und freundliche alte Kellnerinnen in Tracht.

Der Regen ist vorbei. Es stürmt nur noch. Ich gehe also weiter und reihe mich in die Warteschlange vor dem „Empire of Silence“ ein. Auf großen Tafeln wird das locked in syndrome erklärt. In allen 3 Landessprachen. Der Zustand von Menschen wird beschrieben, die bei vollem Bewusstsein keine Möglichkeit des Ausdrucks oder der Bewegung besäßen. Diese Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeit wird als Mauer bezeichnet, in die diese Personen eingeschlossen sind. Diese Mauer gälte es niederzureißen. Auf Italienisch und Französisch heißt das „die Mauer der Stille“. Silence. Silenzio. Auf Deutsch ist das dann aber die „Mauer des Schweigens“. Warum wird Stille auf Deutsch Schweigen, frage ich mich und habe eine leichte Panikattacke. Locked in syndrome und die Mauer des Schweigens. Sollte ich da nicht besser weggehen. Aber weil ich schon nicht in „Leben, Lust und Lohn“ gegangen bin, wo man oder frau in einem Einkaufswagen herumfahren kann. Und weil ich „Happy End“ und „Strangers in Paradise“ schon ausgelassen habe, bleibe ich in der Schlange.

Nach einer halben Stunde langsamen Vorrückens betrete ich mit etwa 50 anderen Personen eine Rampe. Eine Frau erklärt uns vom Fernsehschirm herunter. Wieder in allen Sprachen. Die Menschen hätten verlernt, miteinander zu reden. Und junge Personen in roten T-Shirts fordern agitierend auf, die Mauer des Schweigens, der silence und der silenzio niederzureißen.

Wir werden in einen kleinen Kinosaal geführt. Ein Film. Ein kleines Mädchen stellt alle Geräusche ab. Also doch „Stille“. Und nicht „Schweigen“. Dann geht ein breites Garagentor auf und wir müssen in eine Grotte. An den Wänden sind mattweiße Masken in der Form des Kopfs des „Schreis“ von Edvard Munch. Laute Musik. Nebel. Der Boden vibriert. Geisterbahn. Ich überlege, wie ich da hinauskönnte. Da leuchtet ein riesiger grünschleimiger Schlund links auf. Eine Figur im schwarzen Mönchshabit mit der bleichen Maske der Munch-Figur vor dem Gesicht steht im Schlund. Mehr Nebel. Eine Brücke wird über einen Abgrund ausgefahren. Eine Männerstimme rät uns, uns unseres Schweigens, silence und silenzio bewusst zu werden. Mit viel Hall.

Dann müssen wir über die wackelige Brücke zum Generator des Schweigens gehen. Das ist eine Sparversion eines Dr.-Mabuse-Geräts aus dem Metropolisfundus. Kugeln, in denen es weiß blitzt. Und blau. Lange Arme. Grüne Blitze in einer Kugel in der Mitte. Animateusen in roten T-Shirts springen auf uns zu. Wir werden nach Landessprachen sortiert. Die Animateusen versprechen den Sieg über den Generator des Schweigens, wenn alle erleuchteten Masken des Schweigens an den Wänden ausgelöscht würden. Wieder sind das die bleichen Munchgesichter. Ein Countdown beginnt. Die Animateusen quietschen anfeuernd. Und die Besucher und Besucherinnen schlagen auf die Gesichter ein. Wie wild. Sie löschen sie aus. Der Countdown ist zu Ende. Der Generator erlischt. Ist besiegt. Musikalischer Jubel. Ein Tusch. Ein weiteres Garagentor fährt hoch. Die Besucher und Besucherinnen werden als Sieger entlassen. Treten als Sieger in das Tageslicht. Schweizer und Schweizerinnen haben gesiegt. Das verschafft man sich so selber. Wenn die Welt das schon nicht mehr zulässt.

Später. Nach der Ausstellung „Geld und Wert – das letzte Tabu“, in der einfach Geld ausgestellt ist. Und nach einem Konzert, bei dem eine Schweizer Formation auf Steeldrums karibische Rhythmen zauberte. Aufrecht. Mit unbewegtem Gesicht. Später bei der Bundesfeier. Da spricht der Bundesrat Samuel Schmid mit Wahlkampfstimme von der Freiheit der Kunst und Kultur in der Schweiz. Der Politiker desinformiert. Natürlich. Die Freiheit ist ja in dem einen Turm der Coop Himmelblau eingesperrt. Und Projekte wie das „Empire of Silence“. Die brauchen kein Quäntchen Freiheit. Die Einübung im Auslöschen von Gesichtern als Clubmedspiel. Das fällt nicht unter Kunst und Kultur. Das ist Unterhaltungspopulismus. Damit man am Ende als Sieger weggehen kann. Und wie sich das für Unterhaltung gehört, gibt es ja auch einen guten Zweck. Gegen das Schweigen. Damit wir das verlernte Reden wieder erlernen. Der Verlust des Redens wurde uns ja anklagend vorgetragen. Wir wurden gleich am Anfang in eine vage Mitschuld verstrickt. Musik und Kulisse deuten ein mittelalterliches Verließ an. Folter. Und die Befreiung aus dieser Schauersituation wird durch Befehlssätze ermöglich. Der Befehl, auf die Gesichter einzuschlagen, wird mit gehorsamer Einordnung unter den Befehl beantwortet. Und dann der kleintriumphale Auszug aus dem Schauerexperimentraum ins Freie. Ins Licht. Hier herrscht die Enge von Propaganda. Spielerisches Auslöschen von Plastikmasken. Das wirkt auch auf einer Symbolebene. So viel kann der Mimesis schon noch zugetraut werden.

Im Theaterstück auf der Hauptbühne und in jedes Schweizer Wohnzimmer übertragen. Nach den offiziellen Reden. Da geht es dann gleich richtig um die illegalen Ausländer. Im Expo-Führer ist das Stück angekündigt. Antirassistisch und antisexistisch und antipatriotisch wird es sein. Das Antipatriotische erschöpft sich in der „provokanten“Abwesenheit von Schweizer Flaggen. – Deshalb hat der Bundesrat seine eigene Flagge mit. Ein als Bundesweibel mit Goldtressenuniform verkleideter Bodyguard mit Knopf im Ohr unter dem Zweispitz entrollt die Fahne. Hinter der nennt der Bundesrat dann die Schweiz ein Paradies. In das alle wollten. Trotzig tut er das. – Stück und Theateraufführung sind das Rassistischste und Sexistischste, was in diesem Rahmen möglich ist. Auch hier. In der Wiederholung von pathetischer Verbotssprache die Einübung in diese Sprache. Verulkung hilft dabei noch nach. Das verstärkt den rassistischen Ton in der Möglichkeit, diese Sätze lustig finden zu können. Das Publikum kann sich im Lachen über diese Sätze abspalten und in aller Gemütlichkeit den eigenen Rassismus unangetastet lassen.

Die Hauptfigur des Stücks. Ein Talkshow-Moderator. Dem gelingt es in dem Stück nicht, aus einer Gruppe von in Affen verwandelten Schweizern den Ausländer herauszufinden. Der Moderator verfällt aufgrund dieses Versagens von Ausländerhass in Ausländerliebe. Und weil diese Schweizer Affen sind. Die stinken übrigens. Weil diese Affen alle Konflikte mit Sex lösen. Und zwar in Missionarsstellung. Das wird genau erklärt. Deshalb also kriecht der Moderator dann über eine Äffin. Und. Kawumm. Diese Äffin wird wieder zur Menschin. Sie wird in das Menschenfrausein gefickt. So prachtvoll war die Wirkung des Phallus schon lange nicht zu sehen gewesen. Aber. Gleich darauf singen die Affen die Bundeshymne. Mehrstimmig. Die Affen bekommen so am Ende doch noch Stimme. Der Patriotismus ist dann doch da. Auf die Affen verschoben.

1991. Zur 700-Jahr-Feier der Schweiz. Da gab es einen Künstlerboykott. 2002 sagt der Präsident Kaspar Villiger, Dürrenmatt habe nicht Recht. Die Schweiz sei nicht das Gefängnis, in dem die Bürger zugleich die eigenen Gefängniswärter seien. Dürrenmatt hatte aber ganz sicher Recht. 2002 gibt es nur die Auswirkung der Globalisierung der Welt in einen Musikantenoperettenhollywoodstadel. Bei den Machern von „Empire of Silence“ oder dem Affenstück zur offiziellen Nationalfeier. Da dienen sich junge Männer den Mächtigen an. In der Art des Maturafeierklamauks, der als letzte Demonstration pubertären Widerstands eigentlich schon den Eintritt in die Affirmation feiert. Das war das ganze 19. Jahrhundert so. Das Interessante daran ist, dass diese jungen Männer Herrenwitze erzählen, die die älteren gar nicht mehr kannten.

Und das scheint mir das Politische an der Veranstaltung Expo.02 in der Schweiz zu sein. Die Macher der Expo vergeben die Aufträge an „Junge“ und lassen sich von diesen weit vor die kritischen Errungenschaften und Notwendigkeiten der 90er-Jahre zurückfallen. Genüsslich so. Die Jugend der „Jungen“ ist Berechtigung genug. Und die erledigen das Handwerk des Chauvinismus für die Alten. Wie die Alten sich das nie getraut hätten.