Das Orakel von Washington D. C.

Wie viel Freiheit darf man der Sicherheit opfern? In „Minority Report“ erzählt Steven Spielberg von einem System, das Verbrechen verhindert, indem es Gedanken überwacht. Das Politische des Stoffes verlagert sich dabei bald ins Persönliche

von ELISABETH BRONFEN

Science-Fiction hat schon immer dazu gedient, neuralgische Punkte der amerikanischen Gesellschaft zu berühren. So erstaunt es kaum, dass Steven Spielberg seinen „Minority Report“ als Spiegel der öffentlichen Stimmung nach dem 11. September versteht: Man ist bereit, zivile Freiheiten aufzugeben, um sich sicher zu fühlen. Philip K. Dick, auf dessen Kurzgeschichte „Minority Report“ zurückgeht, mag seine Precrime-Einheit im Zeichen des Kalten Krieges für das Jahr 2054 entworfen haben. Doch in Frage zu stellen, dass totale Sichtbarkeit auch totale Sicherheit bedeuten könnte, ist erstaunlich zeitgemäß.

In einem ovalen Schwimmbecken liegen drei Wesen im Dämmerzustand, durch Schläuche miteinander verbunden und an einen Rechner angeschlossen, der ihre Gedanken aufzeichnet. Man nennt sie Precogs, weil ihre hellseherischen Fähigkeiten ihnen erlauben, alle vorsätzlichen Gewalttaten, die in und um Washington D. C. stattfinden werden, vorauszusehen. In dem Augenblick, in dem sie eine Gewalttat erahnen, wird ein Alarm ausgelöst, und die Polizisten, die sie Tag und Nacht beobachten, erfahren den Namen der zukünftigen Opfer und Täter und den Zeitpunkt der Tat. Auf einer gläsernen Wand manipuliert daraufhin der Leiter der Einheit, John Anderton (Tom Cruise), die visuellen Fragmente des Gewaltgeschehens. So macht er den Tatort ausfindig und kann den vermeintlichen Täter festnehmen.

In den ersten Sequenzen des Films gelingt es Spielberg, ergreifende Filmbilder für ein Überwachungssystem zu finden, dem nicht einmal die Gedanken der Bürger verschlossen bleiben. Diese Bilder entlarven den Kernwiderspruch des Systems. Die Gedankenpolizei, die die Bevölkerung schützen soll, terrorisiert diese, da sie zu jeder Zeit in die intimsten Räume eindringen kann. In Scharen schweben die Agenten aus dem Himmel auf einen Verdächtigen hinab und kreisen ihn ein, oder sie lassen mechanische Spinnen auf Wohnblöcke los, um mit Hilfe eines Augenscans die Identität der Bewohner zu registrieren. In dieser allumfassenden Hilflosigkeit gegenüber dem Blick einer strafenden Autorität liegt für Spielberg unzweifelhaft die Grenze dessen, was man an persönlicher Freiheit für die innere Sicherheit aufzugeben bereit sein sollte.

Natürlich versteht man den Reiz eines Sicherheitssystems, in dem der Schutz der Bürger mit einer Abwehr aller möglichen Gewalttaten gleichgesetzt wird. Gewalt zu verhindern, statt sie zu bestrafen, bedeutet, aus der fatalen Logik des nachträglichen Handelns auszubrechen. Denn eine auf Bestrafung basierende Rechtsprechung greift immer zu kurz, insofern sie die Gewalttat nur sühnen, nicht aber rückgängig machen kann. Ein auf Verhinderung angelegtes Bestrafungssystem dagegen entspricht dem Wunsch nach einer Welt ohne Gewalt. Es führt jedoch jene radikale Beschneidung des Menschen ein, vor der Spielbergs Film warnt. Auf die Vorbestimmung des Handelns zu beharren bedeutet auch, jegliche individuelle Handlungsfähigkeit zu annullieren. In Philip K. Dicks paranoidem Universum hat der Einzelne nicht nur kein Recht, sich gegen die Verhaftung durch die Gedankenpolizei zu wehren. Der Preis für eine Welt ohne Gewalt ist überdies das Tilgen des Zufalls, der besagt, dass nicht alle Gewaltgedanken in Taten umgesetzt werden müssen. Als Humanist versteht Spielberg zwar den Wunsch nach einer Welt, in der totale Sicherheit herrscht. Zugleich kann er aber den uramerikanischen Traum an die Möglichkeit der Selbstbestimmung nicht aufgeben. Haben seine Filme doch immer von der utopischen Vorstellung gelebt, dass man als Einzelner in sein Schicksal eingreifen kann, um unmenschliche Lebenssituationen zu verändern.

Weil nun aus dem düsteren Universum Philip K. Dicks ein Blockbuster entstehen sollte, haben die Drehbuchautoren, Scott Frank und Jon Cohen, einen verworrenen Verfolgungsplot entwickelt, der zwar nicht aufgeht, dafür aber ein Feuerwerk an Szenen des Gejagtseins entfaltet. Von dem Augenblick an, als Anderton entdeckt, dass die Precogs ihn als Mörder eines ihm unbekannten Mannes identifiziert haben, nehmen die in kalten Blautönen gefilmten Bilder einer beklemmenden Überwachungsmaschinerie eine aufheiternde Wendung: Als wäre er durch Alices Hasenloch gefallen, beweist Tom Cruise auf seiner kühnen Flucht, dass er sich gegen alle Hindernisse zu wehren weiß, um seinen Widersachern zu entkommen. Das Schlagwort des Films heißt demzufolge auch „everybody runs“.

Dabei geht es nicht nur um Andertons Findigkeit, das von ihm vertretene System zu überlisten, sondern auch um ein philosophisches Denkspiel: Wenn man weiß, dass man Gewaltfantasien hegt und davon überwältigt werden könnte, hat man dann trotzdem die Möglichkeit, anders zu handeln, als man denkt? Das zweite Schlagwort des Films lautet dementsprechend „you have a choice“. Der Precog Agatha (Samantha Morton) entpuppt sich als Störfaktor in dem von ihren Visionen gestützten Precrime-System. Nachdem Anderton begriffen hat, dass sie allein ihm helfen kann zu verstehen, wie er plötzlich selber zum Verdächtigen seiner Polizeieinheit werden konnte, beharrt sie darauf: Er habe die Wahl, den Tatort zu verlassen, ohne Blut zu vergießen, gerade weil er seine Zukunft kenne.

Eigenverantwortung wird in „Minority Report“ jedoch nicht als politische, sondern als persönliche Frage verhandelt: als Krise und Wiederherstellung der Kleinfamilie. Diese Abwendung von einer Kritik an den Rechten der Polizei ist deshalb bemerkenswert, weil sie eine von der Geschichte gelegte Fährte ausblendet. Man könnte nämlich durchaus mutmaßen: Vor Trauer um den verlorenen Sohn, der bei einem gemeinsamen Besuch eines Schwimmbades plötzlich verschwand, leidet Anderton an Wahnvorstellungen. Sein Glaube, der Report der Precogs sei eine Fälschung seines Rivalen Danny Witwers (Colin Farrell), entspricht somit der paranoiden Überwachungskultur, die Menschen für schuldig erklärt, bevor sie eine Tat begehen. Wie sehr das Überwachungssystem paranoide Züge trägt, zeigt sich zudem darin, dass es von Halluzinationen traumatisierter Wesen abhängt: von Kindern Drogensüchtiger, die genetisch behandelt worden sind. Die Visionen der bevorstehenden Gewalttaten entspringen somit den Traumwelten jener, die immer nur eine Welt der Gewalt und Zerstörung kannten. Zwar interessiert Spielberg der morsche Kern, der einem Verständnis von Gerechtigkeit innewohnt, das das Ausüben von Gewalt über Leben und Tod als Mittel einsetzt, um Gewalt zu verhindern. Doch diese Kritik der Gewalt wird als klassischer rite de passage des Sohnes inszeniert.

Wie schon so oft muss Tom Cruise sich gegen eine väterliche Autorität durchsetzen, um endlich erwachsen zu werden. Er entdeckt, dass die Gründung von Precrime mit dem Tod von Agathas Mutter zusammenhängt, und bringt damit das ganze Überwachungssystem zu Fall. Dadurch kann er die Stelle des Vaters endlich einnehmen und mit seiner schwangeren Frau eine neue Familie gründen. Doch eigentlich wurde er für diese Retterrolle von Agatha ausgewählt. Mit der klagevollen Aufforderung „don't you see?“ lässt sie ihn die Bilder ihrer sterbenden Mutter miterleben, die sie ebenso heimsuchen wie die Vision zukünftiger Gewalttaten. Dass im Zentrum der Verfolgungsjagd ein Exorzismus der Vergangenheit liegt, erklärt die optimistische Wende im Schicksal der beiden Ausreißer. Plötzlich geht es weder um die Gesetze der Vorherbestimmung noch um die Frage der Gewaltverhinderung, sondern um Vergeltung. Das könnte man als sentimentale Entlastungsgeschichte abtun, wenn da nicht der hypnotische Blick Agathas wäre. In einer wunderbaren Szene nutzt sie ihre hellseherischen Fähigkeiten, um das Überwachungssystem zu überlisten. Schließlich weiß sie im Voraus, wann ein Ballon den Blick der Polizisten verstellen wird. Und wenn sie Anderton beibringt, dass er sich entscheiden kann, ob er seinen mörderischen Absichten nachgeben will oder nicht, zeigt sie ihm auch, dass Verzeihen eine Alternative zum Töten darstellt.

„Minority Report“ setzt mit den Visionen der Precogs von der Zerrüttung einer Familie ein, genauer mit dem Wunsch eines Familienvaters, seine Frau und dessen Liebhaber zu töten. Er hört mit Bildern eines wiedergewonnenen Familienglückes auf. Irgendwo zwischen dem paranoiden Verdacht, die Familie sei immer bedroht, und der verklärten Wunschfantasie ungetrübter zwischenmenschlicher Harmonie pendelt sich Agathas Hellsicht ein. Man hat erst eine echte Wahl zwischen dem Ausüben von Gewalt und dem Sublimieren seiner Vergeltungswünsche, wenn man für sich erkannt hat, dass Gewalt nie gänzlich zu tilgen ist, weder in einem Individuum noch in einer Gesellschaft. Nicht also nur das Maß an Freiheit, das man aufzugeben bereit ist, steht auf dem Spiel, sondern auch die Fähigkeit, die Gewalt der Leidenschaften in Mitgefühl umzupolen. Vor der Gewalt, die uns zufällig von außen trifft, können wir nie sicher sein. Aber vor Wahnvorstellungen einer vom Verbrechen gereinigten Welt müssen wir uns schützen. Dann wird die ermordete Mutter Agatha in deren Träumen nicht mehr heimsuchen.

„Minority Report“. Regie: Steven Spielberg. Mit Tom Cruise, Samantha Morton u. a., USA 2002, 145 Min.