Hoffnung für die Kindersklaven

In der Produktion von Saatgut arbeiten 400.000 indische Kinder in Schuldknechtschaft. Internationale Konzerne haben das System organisiert. Regierung und Unternehmen wollen jetzt Kinderarbeit durch Verträge ächten und ein Gütesiegel einführen

von UWE HOERING

Vorsichtig entfernt Roja die Deckblätter, Blütenblätter und Staubbeutel der Baumwollpflanze. Dann wird die Blüte mit Pollen vom Nachbarfeld befruchtet. Immer dieselben Handgriffe, bis zu zwölf Stunden am Tag, sechs Monate lang. Zeit für Schule hat die Zehnjährige nicht.

Roja ist eines von bis zu 400.000 Mädchen unter 14 Jahren, die Baumwollsaatgut herstellen. Das sind weit mehr als in der Teppichherstellung, dem Schleifen von Halbedelsteinen oder der Produktion von Armbändern, Tätigkeiten, die für Kinderarbeit berüchtigt sind. Ihr Arbeitgeber hat ihren Eltern einen Vorschuss gezahlt, den sie jetzt abarbeiten muss. Der Monatslohn von umgerechnet knapp zehn Dollar macht mehr als ein Viertel des Einkommens ihrer Familie aus.

Roja weiß nicht, dass sie gleichzeitig für ein multinationales Unternehmen arbeitet. Syngenta, Monsanto und Unilever liefern das Saatgut für die Pflanzen, sie legen Anbaumethoden und Kaufpreis fest. Und sie zahlen nur, wenn der Bauer ihre Qualitätsanforderungen erfüllt. Ein Verbot von Kinderarbeit kommt in den meisten Verträgen nicht vor. Kinderarbeit in der Landwirtschaft sei üblich und notwendig für die Kleinbauern, sagen Sprecher von Syngenta und Monsanto.

Die Produktion von Baumwollsaatgut ist ein gutes Geschäft. Hochburg ist der südindische Bundesstaat Andhra Pradesh. Allein für Mahyco, die indische Tochter von Monsanto, arbeiten rund 800 Vertragsbauern. Mit der wirtschaftlichen Liberalisierung seit Ende der 80er-Jahre sind die ausländischen Konzerne massiv in den indischen Markt eingestiegen, mit über 900 Millionen US-Dollar im Jahr einem der größten der Welt. Sie konzentrieren sich auf profitträchtige Pflanzen wie Baumwolle, Ölsaaten, Mais und Gemüse. Bei der Baumwollsaat sind fast ausschließlich Mädchen beschäftigt. Fast alle sind durch Vorschüsse an ihre Arbeitgeber gebunden, oft für mehrere Jahre. „Wir benötigen die Kinder für die gesamte Saison. Würden sie mittendrin aufhören, wären wir verloren“, rechtfertigt ein Bauer die Knebelung. Die moderne Saatgutproduktion hat mehr Beschäftigung gebracht, räumt Davuruli Venkateswarlu ein. Er hat eine Studie für die Internationale Arbeitsorganisation ILO über die Mädchenarbeit erstellt. Doch es gebe auch mehr Ausbeutung durch ein „völlig neues System von ‚bonded labour‘, Schuldsklaven“. Um die Verträge zu erfüllen, drücken die Bauern ihre Preise: Mädchen wird nur halb so viel gezahlt wie Erwachsenen, und sie mucken auch weniger auf. „Kontrolle und hohe Profite sind die wirklichen Motive für die Beschäftigung von Mädchen“, erklärt Davuruli daher, „nicht ihre angeblich besondere Geschicklichkeit.“

Auch in Indien sehen Kinderschutzorganisationen, dass für viele Familien Kinderarbeit notwendig ist, sei es auf der eigenen kleinen Farm, sei es als Zusatz zum Familieneinkommen. Ausbeutung und Zwang wie in der Saatgutproduktion sei damit allerdings nicht zu rechtfertigen. Nachdem Medien und Nichtregierungsorganisationen die Situation der Kindersklavinnen publik gemacht haben, wollen Politik und Wirtschaft das Problem lösen. Zumindest der schweizerische Agrarmulti Syngenta verlangt inzwischen von den Vertragsbauern, keine Kinder zu beschäftigen.

Auch die Regierung von Andhra Pradesh hat schärfere Maßnahmen gegen Kinderarbeit in der Landwirtschaft angekündigt. Bei einer Konferenz Anfang August beschlossen Vertreter von Regierung, NGOs, Saatgutunternehmen und Produzenten, „das Bewusstsein in der Saatgutindustrie für die Abschaffung von Kinderarbeit“ zu schärfen. Verträge sollen sicherstellen, dass keine Kinder beschäftigt werden. Saatgut, das ohne Kinderarbeit hergestellt wurde, soll durch ein Label gekennzeichnet werden.

„Abwarten“, meint Shantha von der Stiftung MVF in Hyderabad, die insbesondere gegen die verbreitete Kinderarbeit in der Landwirtschaft angeht. Zwar seien die Saatgutproduzenten angesichts von NGO-Aktivitäten und Regierungsdruck nicht mehr so selbstsicher wie früher. „Aber da sie sehr einflussreich sind, können sie immer Mittel und Wege finden, Kinder zu beschäftigen und das zu rechtfertigen.“