Flecken auf dem Teppich

„Wenn man einen weißen Anzug anhat“: Max Goldt hat Tagebuch geführt und sorgt sich darin um die Manieren der Menschen

von HARALD FRICKE

Ein, zwei kurze Geschichten sind es doch geworden, immerhin. Eine handelt davon, wie das Leben aussehen könnte, wenn man reich wäre; aber diese Fantasiererei führt schnell von Paladinen und Palästen aufs Totenbett, wo Uschi Glas schon als Sterbebegleiterin wartet. Die andere ist um die Erinnerung an frühere Bundeskanzler und Bundespräsidenten gestrickt – nur Kiesinger, da weiß kein Mensch was drüber. Außerdem gibt es eine nicht gehaltene Eröffnungsrede zur Ausstellung des Comic-Duos Rattelschneck (gute Leute!) und einige Worte zum gespannten Verhältnis zwischen Kölnern und Düsseldorfern (versöhnt Euch!).

Der Rest der 160 Seiten ist tatsächlich Tagebuch über das, was Max Goldt so durchgemacht hat im vergangenen Jahr. Sein Verleger hat ihm zu dieser Form geraten, da man so ziemlich alles in einem Tagebuch verhandeln kann. Fleißig auf Reisen nach Würzburg oder Pforzheim notierte Erlebnisse, ein bisschen Atmosphäre von einer Lesetour. Viel Raum nehmen auch der Ärger mit dem kampfhundbesitzenden Nachbarn ein und schließlich die Mühen eines notgedrungenen Umzugs. Kennt jeder, mag keiner, darauf können sich alle einigen. Erst recht, wenn Goldt die ihm von den Zeitläuften auferlegten Beschwerlichkeiten zur Ein-Satz-Miniatur verdichtet: „2. 1. 2002 – Euros holen für die Möbelpacker als Trinkgeld, dann Cola holen für die Möbelpacker zum Trinken.“

Ein Buch also auf Augenhöhe mit den täglichen Banalitäten. Das verspricht eine prima Bettlektüre im Rückblick auf ein Jahr der heiligen Kriege und Flutkatastrophen. Denn das blieb ja auf der Strecke angesichts einer Welt im Ausnahmezustand – wie lebt es sich drinnen mit dem Druck dort draußen? Wo vorher viel Ich war in all der Popliteratur, sind Bush, Ussama Bin Laden und brennende Hochhaustürme geworden. Das weiß auch Goldt, deshalb sind seine Texte nicht Kapitulation vor den scheinbar unversöhnlichen Verhältnissen jener Welt, wie sie sich nach dem 11. September darstellt, sondern ein Widerspruch gegen die seither behauptete Eigentlichkeit im Namen des big Ernst. Wenn aber das Politische als fortwährende Krise ins Bewusstsein drängt, liegt ein wenig Goldtsche Bewältigung durchaus im Bekenntnis, dass man keine Ahnung hat, wo das alles enden soll. Warum muss man deswegen allerdings aufhören, so zu leben, wie man es bisher getan hat?

Vielleicht ist das Tagebuch die ideale Form, um auf diese Zurichtungen der Realität zu reagieren. Dann wird der Moment, „als es passierte“, von Goldt in einem furchtbar hilflosen Satz hingeschrieben, der eben nicht mit Bedacht formuliert nach einem Anschluss an die Katastrophe sucht: „Weltgeschichte kotzt mich gerade an wie eine unangeleinte Kampfqualle.“ Irgendeinen Unsinn denkt man sich immer, auch wenn oder gerade weil die Situation ein Loch ins Denken reißt.

Es gab eine Menge Autoren, die versucht haben, dieses Loch nach dem 11. September intellektuell zu kitten, viel Kitsch war auch dabei. Umso mehr fühlt man bei Goldt in den spärlichen Sätzen mit, die als Verarbeitung dessen, was er den „ereignisverzerrten Tag“ nennt, auch ein Jahr danach sehr verloren dastehen: „Ich kaufte mir eine Flasche Wein und kehrte heim. Ins Wohnzimmer mochte ich nicht mehr gehen, denn da stand der Fernseher, und den erbarmungslosen Kasten wollte ich nicht mehr sehen. Selbst wenn ich ihn nicht anstellte: Die bösen Sachen sind ja trotzdem in ihm drin.“ Zugleich bleibt ein Argwohn, wenn Goldt im Radio von der Stille hört, die über Berlin liegen soll – und draußen donnerten wie gehabt „Autos umher, Menschen saßen in Cafés, quakten munter in ihre Telefone und erledigten ihre Einkäufe.“ Auch das sind Beobachtungen, zu denen man im vertraulichen Gestus des Tagebuchs eher Zugang findet, während sie im Leitartikel einer Zeitung als moralische Selbstvergewisserung unerträglich wären.

Viel mehr Aufhebens macht Goldt nicht um den 11. September. Als im Oktober die ersten Kampfeinsätze in Afghanistan beginnen, diskutiert er mit „Frau Rutschky“, der Publizistin, über deren Plan, ein Benimmbuch für Jugendliche zu schreiben. Manchmal hat man beim Lesen das Gefühl, dass Goldt gerne selbst ein solches Buch verfasst hätte, so sehr kann er sich in Details verbeißen, aus denen ihm das Elend der Welt im Elend der Manieren hervorblitzt: Vertreter lassen in Hotels Eiweißflecken auf Teppichen zurück.

Goldt indessen schrubbt und scheuert, macht inneren Hausputz noch beim geringsten Anlass. Seitenlang ziehen sich Überlegungen hin, ob der Nachbar mit der Bulldogge zur Bedrohung für den heimischen Frieden werden könnte. Ein kurzes Gespräch auf dem Flur reicht dann, um zu kündigen. Überhaupt merkt man die Gereiztheit, mit der Goldt dem Alltag begegnet. Jeder Weg vor die Tür kommt einer Zumutung gleich, jede Lesung kostet Überwindung, weil kein Publikum sich vorstellen kann, welche Kämpfe mit der Technik den Dichter umtreiben, wenn er liest, was sonst doch still geschrieben wird. Die Künstlichkeit der Existenz, für die er sich entschieden hat und die ihm in jeder seiner Gewohnheiten ein Bein stellt, sie ist noch größer, wenn sie den Gegenstand des Schreibens bildet. Insofern ist Goldt ein großer Schreiber, dem nichts gleichgültig erscheint, nur selbstverständlich fremd. Darin erinnert er an den Tausendfüßler, der auf die Frage, wie er sich mit sicherem Schritt bewegen kann, ins Stolpern gerät.

Neben derlei Unbill wird nicht weniger wortreich die Verrohung der Sitten beklagt, die stets eine der Sprache ist. Auch der Humor ist für Goldt nur ein Beleg, dass im unentwegten Mitlachen über alle möglichen Witze der Sinn abhanden gekommen ist, warum gelacht wird. Dabei gibt es gute Gründe, denn „wer Humor hat, hat Distanz zu sich selbst, kann sich von weitem sehen, ist dadurch vor Wut und Hass zwar nicht gefeit, wird aber nicht von ihnen aufgefressen.“ Das ist eine schöne, sehr menschenfreundliche Formel, mit der man auf die Lagerkämpfe der Spaßgesellschaft und ihrer Feinde verzichten kann. Ohnehin überwiegt bei Goldt selbst im Humor eine Verletzlichkeit, die erst in ihrer karikaturhaften Überzeichnung kenntlich wird. Man kann auch lustig leiden – das ist angesichts der normalen Beschädigungen nur recht und billig.

Dieses Gefühl will sich Goldt erhalten. Und nur so wird aus der Beobachtung vom 10. Januar 2002 die „Gesellschaftskritik“, als die er seinen Unmut über den Siegeszug des Handys verbucht: „Allerdings darf Kritik auch nicht so penetrant sein, daß die Menschen sich von ihr mehr genervt fühlen als von dem Mißstand, der beklagt wird. Die Mobiltelephone verdanken ihre große Verbreitung vielleicht auch dem Umstand, daß die Kritik an ihnen zu früh und zu massiv auftrat. Die große Zeit der Handy-Witze war die Mitte der neunziger Jahre, als nur recht wenige Leute ein solches Gerät betrieben.“ Auch Goldt hat seinen oft bewunderten Witz, die ausufernde Skurrilität mittlerweile vorsichtig dosiert. Damit die Eigenheiten des Lebens nicht zur Modemasche werden. Sein Tagebuch-Buch ist eine solche Bestandssicherung.

Max Goldt: „Wenn man einen weißen Anzug anhat. Ein Tagebuch-Buch“. Rowohlt, Reinbekbei Hamburg 2002. 160 S., 16,90 €