Selbstüberforderung als Konzept

Bert Neumann wurde zum Bühnenbildner des Jahres gewählt. Für größenwahnsinnige Experimente ist er immer gut. In der Volksbühne hat er jetzt eine ganze Stadt erbaut, die nicht nur den Regisseuren René Pollesch und Frank Castorf als Bühne dient, sondern auch als Club und Akademie genutzt wird

Im Sauseschritt geht es vorbei an gläsernen Supermärkten, Frisörläden und BürosNeumann steht für die Schönheit des Trash. Nun redet ervon Idealen

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Je mehr man seine Kunst benutzen kann, desto glücklicher ist Bert Neumann. In den Küchen, die er im Prater und in der Volksbühne auf die Bühne gestellt hat, konnte man Spagetti kochen und Spiegeleier braten, in den Badezimmern duschen und auf zugefrorenen Swimmingpools ausgiebig rutschen und fallen.

Seine Bauten bieten den Schauspielern und Regisseuren notwendige Widerstände: Sie fordern einen Naturalismus des Spiels heraus, der die Inszenierungen erdet. Die Sprache fliegt oft davon, die Erinnerung kann den Textmassen kaum folgen, die intellektuellen Volten stoßen mal gerade so ins Begreifen vor – aber was dabei auf der Bühne geschieht, das prägt sich ein und hilft, den Rest wiederzufinden.

Seit 1988 arbeitet Neumann mit Frank Castorf zusammen. Von Anfang an bestimmte er das Volksbühnen-Image mit, das die Realität des Hier und Heute durch die Stücke schimmern ließ wie ein Unterhemd durch ein löchriges Kostüm. Dieses Jahr wurde er in der Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute zum Bühnenbildner des Jahres gewählt. Das allein wäre schon ein Grund zu feiern. Noch einen mehr liefert das zehnjährige Jubiläum des Castorf-Teams an der Volksbühne. Statt „einer Party leisten wir uns ein größenwahnsinniges Experiment“, sagt Neumann, der zurzeit am größten Bühnenbild der Volksbühnen-Geschichte baut.

Sechs Tage vor der ersten Premiere wimmelt es wie in einem Bienenstock in seiner „Neustadt“. Im Sauseschritt führt er mich an gläsernen Supermärkten, Frisörläden und Büros vorbei, die sich mit der gesichtslosen Gebrauchsarchitektur draußen den bescheidenen Charme der Anonymität teilen. Dazwischen werden die Zuschauer von René Polleschs „24 Stunden sind kein Tag“ (Premiere am Samstag) auf einer tiefen Treppe sitzen und auf einen Turm aus Gerüststangen blicken. Das Gerüst selbst steht auf der Drehbühne und wird den Zuschauern von Frank Castorfs Inszenierung des „Idioten“ (Premiere von heute Abend auf den kommenden Dienstag verschoben) Platz bieten. Wer unten sitzt, schaut in das Schlafzimmer im Hause Rogozins, die mittlere Etage ist auf einer Höhe mit dem Salon Natasjas mit seinen rührenden Papierlaternen, und noch eins höher schaukeln die Kronleuchter der Generalsfamilie.

Das Bild zerfällt, jeder sieht etwas anderes. Dass aber nicht an „jedem Platz die gleichen Informationen zu finden sind“, meint Neumann, entspricht ja nur unserer Alltagserfahrung.

„Überforderung“ und „Lustgewinn“ liegen für ihn ganz nahe beieinander. „Selbstüberforderung setzt Kräfte frei“, das lässt er so ins Gespräch einfließen wie andere „schönes Wetter heute“. Aber er hält daran fest, auf Nachfrage.

Anders zum Beispiel wäre der Film „Dämonen“ nach dem Theaterstück nie zustande gekommen. Das Theater aber auch als Film zu fixieren, scheint ihm immer wichtiger – vielleicht gerade, weil der Volksbühnen-Stil so sehr dazu neigt, sich ins Leben aufzulösen. Die neue Bühnenstadt ist deshalb zugleich als ein Filmsetting gebaut worden.

Filmbilder aber spielen in seinen Installationen auch noch aus einem anderen Grund eine große Rolle. „Man lebt mit Fernseh- und Kinobildern viel mehr als mit dem Theater“, sagt Neumann. Sie gehören zu jenen Requisiten, die die Bühne als heimeligen Ort stilisieren. Diese Heimeligkeit ist ein versöhnliches Angebot. Sie will den Zuschauer auf unvermutet vertrautem Terrain packen, bevor er abgeschleppt wird in andere Ebenen der Diskurse.

Denn die Fallstricke der Theorie sind vom Gemütlichen nie weit entfernt. Das Haus, aus dessen Kamin in den „Dämonen“ eben noch der Schornstein rauchte, zerfällt im nächsten Augenblick. Während der Arbeit an dem Stück, erinnert sich Neumann, wurde Belgrad bombardiert. „Das war kaum zu kapieren, dass das in dem gleichen Europa spielt, in dem wir leben und alles seinen normalen Gang weitergeht.“

Neumann ist noch mit der „Kultur im Osten“ aufgewachsen und mit Eltern, die als Architekten und Gestalter die Ideale der Bauhaus-Moderne gegen die Vorwürfe des Formalismus hochhielten. Eine DDR-Geschichte eben. In seinen Bühnenbildern dagegen überwiegt der Trash, der später kam: das schnell Ausgetauschte, das billig Hergestellte, das massenhaft auf den Markt Geworfene. Das könnte man als Abgesang auf jede reformerische Hoffnung verstehen, mit der guten Form den Menschen doch noch in ein sozial verträgliches Wesen zu verwandeln. Es ist aber etwas anderes daraus geworden, vielleicht weil Neumann wenig an Ironie liegt und viel an Ernsthaftigkeit. Es ist eine liebevolle Beobachtung daraus geworden, wie man seine Sehnsüchte und Gefühle nicht nur über all diesen industriellen Müll retten, sondern sie damit sogar noch artikulieren kann.

Wer so sehr wie Neumann mit der Schönheit des Trash identifiziert wird, kann es sich leisten, von Idealen zu reden. Er redet von der „Nachhaltigkeit“ der Bühnenstadt. Nicht nur dem Theaterbesucher soll sie Angebote machen: Die Mobile Akademie will hier dem Thema Migration nachgehen und der Club Neustadt wird zu Konzerten einladen. So rückt er seinem Ideal der Durchlässigkeit immer näher, wie sich Theater und Stadt miteinander verschränken können.