Der Wille zum Glück obsiegt

„Das Heil des Menschen“, so Imre Kertész, „liegt außerhalb seiner geschichtlichen Existenz – nicht aber in der Umgehung geschichtlicher Erfahrung“

von RALF BÖNT

Erst vor ein paar Tagen fiel mir beim Aufräumen der Essay „Meine Rede über das Jahrhundert“ von Imre Kertész wieder in die Hand: ein Stoß loser Fotokopien, die ein bisschen angedunkelt sind. Auf dem Rand befindet sich die Handschrift des Schriftstellers Norbert Niemann, der sich für die Anstreichungen entschuldigt, die er vor dem Fotokopieren schon überall in den Text eingefügt hatte und mir auf die ihm eigene Art glühend den damals noch nicht sehr bekannten Autor empfiehlt. Neben Albert Camus, so Niemann, sei der ungarische Autor Imre Kertész unverzichtbar.

Es war der Frühsommer 1996, das fürchterliche Jahrhundert seit über sechs Jahren angeblich vorbei, das neue vor lauter Beliebigkeit aber noch lange nicht in Sicht. Essayisten wie Kolumnisten machten sich auf vergleichbarem Niveau über Gutmenschen lustig. Irgendwie war alles oder doch fast alles egal, und manch Intellektueller soll überlegt haben, ob er seine wenig angesagte Ernsthaftigkeit durch eine Verkleidung in einen wie auch immer redlichen Fatalisten kaschieren könnte.

Imre Kertész’ Zeitgenossenschaft ist ganz anders geartet. In der „Rede über das Jahrhundert“ greift er den Camus’schen Satz von der Pflicht zum Glück auf und bemerkt, dass „Glück alles [ist], bloß kein statischer Ruhezustand, bloß nicht die Friedfertigkeit wiederkäuender Rinder.“ Das klingt kühn bis bissig, denn man weiß beim Lesen immer schon, dass Kertész als Jugendlicher aus Budapest deportiert wurde und verschiedene Konzentrationslager durchlitt, darunter, man schreibt den Namen nicht gern und muss es dann doch tun: Auschwitz. „Das im höheren Sinne begriffene Heil des Menschen“, so Kertész weiter, „liegt außerhalb seiner geschichtlichen Existenz – nicht aber in der Umgehung geschichtlicher Erfahrungen, sondern im Gegenteil darin, sie zu durchleben, sich anzueignen und in tragischer Weise mit ihnen zu identifizieren.“

Ich schrieb Niemann damals meinen Dank zurück und stimmte zu, denn diese Philosophie war ja eben nicht etwa Ausdruck eines vielleicht gerade noch karnevalesken Zynismus, der als zweite Todsünde nach der Gleichgültigkeit zu enttarnen gewesen wäre. Eher triumphierte hier – um das Bild aus Camus’ berühmtem, aber leider etwas aus der Mode gekommenem Essay „Der Mythos von Sisyphos“ zu bemühen – über den Stein, der ihn eben noch zermahlen wollte.

Nach dem Essay las ich zuerst ein vermeintlich kleineres, weil zumindest eher dünnes Buch: „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“. Mit großer Komik fabulieren dort zwei Philosophen im Künstlerheim, bis der eine den anderen fragt, ob er Kinder habe, und der verneinen muss: Das Nein zum Kind begründet er im Nein zur Macht, aber es wächst und wuchert, ein fressendes, am Ende feindliches Nein. Ein trauriges, zartes Buch, ein Liebesabschiedsbrief an die Welt: So geht es auch nicht. Ich las es viermal hintereinander, und schrieb zwei Jahre später seinem Autor auch einen Brief. Imre Kertész schrieb mir mit fremder, unbegreiflicher, tief anrührender, ja schockierender Freundlichkeit zurück.

Natürlich hatte ich inzwischen all die anderen Bücher und die gelegentlich in der Zeitschrift Sinn und Form erscheinenden Essays gelesen. Natürlich wusste ich längst wie jeder andere, dass Kertész 15 Jahre am Hauptwerk, dem „Roman eines Schicksallosen“ gearbeitet hat, um lapidare oder aggressive Absagen der Verlage zu sammeln; dann spät doch eine Zusage, anschließend umfassende Ignoranz gegenüber dem Buch. In dem pervertierten Entwicklungsroman, der zunächst einer inneren Logik des Konzentrationslagers folgt und einem den Atem nimmt, gibt es eine beinahe unscheinbare Binnenerzählung, in der ein Mann auf einem Transport von Gefangenen sein Leben riskiert, um einem anderen, ebenfalls Totgeweihten eine Essensration zukommen zu lassen: Die perverse Logik wird dem Überlebenswillen unterworfen, der Wille zum Glück obsiegt auf eine alles und alle beschämende Weise. Einige Male konnte man Imre Kertész in den letzten Jahren in Berlin treffen, mal las er, mal nahm er einen Preis entgegen und hielt eine Rede; zur Zeit arbeitet er, wie man hört, im Wissensschaftskolleg im Grunewald an seinem neuen Roman. Immer traf einen im Ausklang der Veranstaltungen die ausgesuchteste Höflichkeit, eine genaue Aufmerksamkeit, man möchte eigentlich sagen: Menschenfreundlichkeit.

Dass dieser Schriftsteller noch einmal 15 Jahre am „Fiasko“, einem das Scheitern seines ersten Romans aufarbeitenden zweiten Roman geschrieben hat, schien in diesen Situationen nicht vorstellbar. Und es tat schon weh, dass bei Erscheinen der deutschen Übersetzung dieses Buch nur freundlich oder anerkennend zur Kenntnis genommen wurde – neben einigen großen Verehrern scheint es viele Menschen zu geben, die das Lesen dieses Autors, warum auch immer, mit Political Correctness verbinden –, während so genannte szenegetriebene Hauptstadtliteratur oder ähnlicher Unsinn auf Titelseiten ihren Pseudofuror umsetzen durfte.

Dass wir uns mit dem Ende des Jahrhunderts vertan hatten, wissen wir mittlerweile. Neue Gutmenschen treiben die utopische Aufrüstung wieder schlüssig und sichtbar voran. Fatalismus ist in, aber wir dürfen auch wieder ernst und nachdenklich sein. Dass das literarische Werk von Imre Kertész jetzt hohe, publikumswirksame Ehrung erfährt, ist ein kleiner Triumph über so manchen Stein, und dabei ganz in sich selbst begründet. Das Unfassbare, das uns verstummen lässt, ist ein Bonus, den diese Literatur uns freimütig gibt: Wir können auf letzte tragische Weise stolz auf sie sein.