Privatsache Gesundheit

Rot-grüner Gesundheitspolitik fehlt ein tragfähiges Konzept, weil sie der entscheidenden Frage aus dem Weg geht: Wie solidarisch soll Krankheit künftig finanziert werden?

Ein Konsens über auch künftig solidarischzu finanzierendeLeistungen istnicht erkennbar

Abgegriffene Pharmadosetten auffüllen, verteilen, kontrollieren – Alltag in deutschen Pflegeheimen. Jeder zehnte Bewohner erhält zugleich sieben und mehr Medikamente. Vieles ist unnütz, einiges sogar problematisch: Sucht fördernde Beruhigungstabletten oder Arzneien gegen Psychosen, die die Sturzgefahr erhöhen. Eine Fachzeitschrift fasst zusammen, „ein Rückgang dieser Therapien wäre ein Hinweis auf Qualitätsverbesserungen in der Praxis“.

Solche Befunde stützen das doppelte gesundheitspolitische Ziel der rot-grünen Koalition: Mit mehr wissenschaftlich begründeten Therapien will man das Ausgabenwachstum der Krankenversicherung begrenzen und zugleich bestehende Fehlversorgungen abbauen: Bisher verlieren sich chronisch Kranke oft in einem unkoordinierten Therapiewirrwar. Dem soll durch wissenschaftlich belegte, standardisierte und kontinuierliche Behandlungen abgeholfen werden (Disease-Management). Klinikbehandlungen will man mit Fallpauschalen einheitlich vergüten und Mehrfachuntersuchungen und widersprüchliche Therapien vermeiden, indem die Behandlungsfäden beim Hausarzt zusammenlaufen. Mit höheren Versicherungspflichtgrenzen will Ulla Schmidt schließlich auch den Solidarcharakter der gesetzlichen Krankenversicherung stärken. Gut Verdienende könnten künftig erst ab einem Monatseinkommen von 4.500 Euro ( statt heute 3.375 Euro ) zu den Privaten wechseln.

All dies sind plausible Einzelschritte, die sich jedoch nicht zu einem tragfähigen Konzept zusammenfügen: Die Krankenkassen werden weiterhin um gesunde Kunden statt um eine verbesserte gesundheitliche Versorgung wetteifern. Und ist es wirklichkeitsfremd, allein mit mehr Effizienz die Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung beheben zu wollen. Wer eine verbesserte Versorgung für alle will, muss angesichts von Massenarbeitslosigkeit, gesellschaftlicher Alterung und medizinischem Fortschritt auch eine Reform der Kasseneinnahmen –etwa durch eine Berücksichtigung von Kapitalerträgen und Mieteinnahmen – ins Auge fassen. Dies lehnt besonders die SPD ab. Ihre Klientel der Häuschenbesitzer und Kleinaktionäre würde über Gebühr beansprucht, solange privat versicherte gut Verdienende völlig aus der Finanzierung der gesetzlichen Kassen ausgeklammert bleiben. Entgegen den rot-grünen Wahlversprechen dürfte deshalb schon in dieser Legislaturperiode eine Aufspaltung des Leistungsumfanges der gesetzlichen Krankenkassen in eine Basissicherung und in privat finanzierte Eigenleistungen unumgänglich sein. Die damit verbundene Zuspitzung gesundheitlicher Ungleichheiten wird dann aber alle gesundheitlichen Ziele zum Scheitern verurteilen.

Doch gemach. Warum sollten Patienten für alltägliche Erkältungskrankheiten oder Zahnersatz nicht selbst zahlen, wenn hierdurch Mittel für aufwändige Therapien zur Lebenserhaltung frei würden? Sicher kann man etwa über obligatorische Unfallversicherungen bei Risikosportarten oder über höhere Selbstbehalte beim Zahnersatz diskutieren. Doch wer eine Teilprivatisierung als Allheilmittel propagiert, ignoriert erstens die prekäre Verteilung der tatsächlichen Krankheitskosten und zweitens die veränderten Krankheiten einer ergrauenden Republik. Drei viertel aller Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung werden für nur ein Zehntel aller Versicherten verwendet. Das „teuerste“ Prozent unter ihnen verbraucht fast ein Drittel aller Ressourcen. Eine solidarisch finanzierte Krankenversicherung funktioniert also nur als Umverteilung zwischen Gesunden und Kranken, Reichen und Armen sowie zwischen Jungen und (weitaus häufiger kranken) Alten. Mit der gesellschaftlichen Alterung und dem medizinischen Fortschritt wandelt sich zudem das Krankheitsgeschehen: Dies wird mit Ausnahme von Unfällen immer stärker von wenigen, meist chronisch verlaufenden Erkrankungen in den letzten Lebensjahrzehnten bestimmt. Bei Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Altersverwirrtheit oder psychischen Leiden geht es nicht um eine vom Einzelnen finanziell schulterbare kurzfristige Behandlung. Sondern um langwierige Therapien, die meist nur dann ein akzeptables Leben mit der Krankheit eröffnen, wenn durch Prävention ein Krankheitsausbruch hinausgeschoben werden kann und schon bei ersten Erkrankungsanzeichen eine Behandlung beginnt. Wer künftig etwa für eine Beitragsreduktion 500 Euro Krankheitskosten im Jahr selbst zahlt, wird auf präventive Maßnahmen eher verzichten. Und wirtschaftlich Schwächere werden selbst bei ersten Erkrankungsanzeichen vor einem Arztbesuch zurückschrecken. Erkrankungen werden verschleppt, problematische Krankheitsverläufe gefördert.

Zwar wäre es möglich, ein hochwertiges Angebot an Prävention und Früherkennung als für den Einzelnen kostenfreie Kassenleistung zu verankern. Doch ein politischer Konsens über auch künftig solidarisch zu finanzierende Leistungen ist nicht erkennbar: Zu stark gehen die Meinungen auseinander, welches Maß an Eigenverantwortung akzeptabel und welche solidarischen Hilfen unumgänglich sind. Die Teilprivatisierung der gesetzlichen Krankenversicherung dürfte daher nach individualistischen Kriterien verlaufen: Jeder entscheidet nach eigener Einschätzung und Kompetenz, welche Hilfen er beansprucht. Dies klingt liberal, ignoriert aber das soziale Dilemma der Medizin: Je größer die sozialen Risiken einer Gesundheitsgefährdung sind, desto weniger sind wir individuell in der Lage, ihnen durch eine Änderung unseres Verhaltens und unserer Lebensverhältnisse zu begegnen.

Die Krankenkassen wetteifern umgesunde Patienten statt um eine verbesserte Versorgung

Ein gesundheitspolitisch sinnvoller Wettbewerb der Krankenkassen müsste der absehbaren Zunahme gesundheitlicher Ungleichheiten begegnen. Die fortbestehende Kassenkonkurrenz spielt hingegen die Gesunden gegen die Kranken aus. Zwar wurde der Risikostrukturausgleich reformiert, der für Kassen mit einem hohen Anteil betagter und schwerstkranker Kunden einen Ausgleich schafft. Doch erst ab 2007 will man die genaue Gesundheitsverteilung zwischen den Kassen berücksichtigen. Dies kommt viel zu spät. Bis dahin besitzt keine Kasse ein wirtschaftliches Interesse an einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Zwar mag etwa die AOK Rheinland die Kosten für ihre Brustkrebspatientinnen durch deren Einbindung in das jetzt anlaufende Disease-Management-Programm reduzieren. Gleichzeitig muss sie dieses Programm aber so abschreckend gestalten, dass andere chronisch Kranke nicht zur AOK wechseln. Denn auch effizient behandelte Kranke sind kostenaufwändiger als gesunde Kunden. Wer neben der Akutmedizin zumindest attraktive Disease-Management-Programme mitsamt einer hochwertigen Prävention und Früherkennung als künftigen Kern eines solidarisch finanzierten Gesundheitswesens sichern will, muss jetzt die tatsächliche Krankheitsverteilung in den Risikostrukturausgleich einfließen lassen. HARRY KUNZ