Ein bisschen Horrorschau

Auf Augenhöhe mit der Realität: Daniel Richter zeigt in Düsseldorf einen Raum gewordenen Bilderpastiche, in dem sich hundert Jahre Kunstikonografie mit aktuellen Medienbildern vermischen

Mit linksradikalem Hintergrund, zählt Richter heute zu den deutschen Kunststars

von HARALD FRICKE

Niemand weiß, wer das Rad erfunden hat. Aber alle freuen sich, dass es sich dreht. Mit kulturellen Vorlieben ist es kaum anders: Als sich das Jahr 2000 näherte, wusste niemand so recht, was er mitnehmen sollte ins neue Jahrtausend. Zahnbürste und Waschzeug? Ein gutes Buch für das Handgepäck und etwas mehr Abstand zu sich selbst als Rüstzeug für kommende Zeiten? Ähnliche Fragen hat sich der Maler Daniel Richter gestellt, irgendwann Ende 1999. Dann hat er fleißig eingepackt, was in den Beständen der Museen, in den Bildbänden der letzten hundert Jahre so zu finden war: Bonnard und die Spätimpressionisten, schon wegen der delikaten Raumkompositionen; ein bisschen symbolistische Traumwirren und die darken Fantasien Arnold Böcklins, aber auch die brutale Sachlichkeit eines Dix oder Grosz, dazu der comichafte Strich von Philip Guston, die morbiden Körperhüllen Ferdinand Hodlers – und immer wieder Wesen aus dem Zwischenreich, von Edvard Munchs Verzweiflungsmenschen bis zu den Undergroundexistenzen von Robert Crumb.

Weil der Koffer noch nicht voll war und das Schiff noch ruhig im Hafen von Hamburg lag – der Stadt, in der er lange zu Hause war –, hat Richter dann auch in Bücherregalen und Plattensammlungen gestöbert, hat sich bei Pop, Punkrock, HipHop und Soul herausgesucht, was enthusiastisch war; hat bei der Literatur auf Autoren geachtet, die für ihre Wut die richtige Sprache gefunden hatten: Hubert Fichte vor allem und auch Hans Henny Jahnn. Nun endlich war Richter bereit für die Abfahrt. Doch die Reise zum Millennium ging nicht nach Übersee, nur nach Berlin.

Dort ist Richter mit seiner „Bastardmalerei“, wie Kay Heymer die hochgeschraubte Stilmischung in Texte zur Kunst lobte, vor ein paar Monaten für den Preis der Nationalgalerie vorgeschlagen worden. Schließlich zählt er neben dem Leipziger Neo Rauch zu den prominentesten deutschen Künstlern der letzten Jahre. Während aber Rauch im Kölner Museum Ludwig zwischen Tübke, Sitte und den üblichen Verdächtigen des sozialistischen Realismus jungen Schwung aus dem Osten repräsentieren darf, ist die Position von Richter noch ungeklärt. Ist er der über die Leinwände groovende Star der „Generation Klecks“, wie es in der Süddeutschen Zeitung stand? Oder nur ein post-, neo- oder wie auch immer expressionistischer Malerfürst mehr, mit linken Motiven zwar, aber trotzdem alte Schule?

Vermutlich muss man die Genealogie hinter den Bildern Richters so erzählen. Er selbst macht es nicht anders, in den Räumen der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, im Düsseldorfer Ständehaus K 21, in dem der 39-Jährige jetzt ausstellt. Noch im Aufbau füllt er Vitrinen mit Schallplattencovern und einer bibliophilen Ausgabe des Fichte-Romans „Detlevs Imitationen ‚Grünspan‘“, dessen Titel nun die Ausstellung ziert, „damit die Leute vielleicht Verbindungen erkennen“, wie er im Vorbeigehen erklärt. Nebenan liegt ein Sitzkissen auf dem Boden, rotes Leder mit schwarzem Stern, „auch ein Stück Vergangenheit“, die Poster zu Revolutionstheaterstücken aus den frühen Siebzigern müssen noch auf halber Deckenhöhe befestigt werden.

Der Rest sind Bilder: 23 großformatige Gemälde, die Produktion aus zweieinhalb Jahren, immer drei Meter hoch und mindestens zwei Meter breit, hängen dort entlang der nicht enden wollenden Wände unter vierfach gereihten Scheinwerfern. Trotzdem wirkt das alles noch zierlich angesichts der musealen Dimensionen ringsumher. Zunächst wusste Richter gar nicht, was er mit den gewaltigen Räumen anfangen sollte. Offenbar hatte der Architekt beim Ausbau des Hauses an einen Skulpturenpark der Minimal Art gedacht oder an ausufernde Installationen, nur nicht an Malerei. „Als Erstes hatte ich das Gefühl, ich komme in eine Turnhalle wie zu Schulzeiten“, meint Richter, nachdem wir die zweite Runde gedreht haben. Das hat sich geändert, mittlerweile ist der Raum fest im Griff der Bilder.

Trotzdem werden weitere Probleme kommen. Denn als Maler bläst Richter einiges an Kritik entgegen: Wieso diese erschlagenden Formate, von denen keines auf dem Kunstmarkt mehr unter einigen zehntausend Euro zu haben ist? Warum überhaupt malen – und dann auch noch figürlich mit realistischem Antlitz? Mehr noch, darf ein Künstler mit linksradikalem Hintergrund sich auf so viel Kommerz und bürgerliche Kultur einlassen? Das war ein Vorwurf, mit dem er vor drei Jahren im Polit-Fanzine 17 Grad konfrontiert wurde. Für Richter gibt es da eine unmissverständliche Antwort: Ja, man kann, man soll, man muss sich einmischen, sonst greifen die Auseinandersetzungen nicht, die es braucht, damit Kunst im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen funktioniert. Das ist keine Frage der Größe, sondern eine des Bewusstseins, in dem man sich positioniert – nicht als Künstler, aber als politisch denkendes Wesen.

Für dieses Bewusstsein hat Richter als Maler eine adäquate Technik entwickelt. Mit seinen Arbeiten überträgt er die unzähligen künstlerischen Vorbilder in einen Pastiche, der wiederum auf aktuelle Medienbilder baut. Das Floß der Medusa von Géricault ist die Ikone, die sich in Richters Fassung als Tragödie der Flüchtlinge in Schlauchbooten widerspiegelt; der Afghanistaneinsatz endet als Apokalypse explodierender Farbschlieren frei nach William Blake. Die Unübersehbarkeit der solchermaßen wild gestreuten Images setzt nicht auf das Label postmoderner Unübersichtlichkeit, sondern zeugt schlichtweg von der Katastrophe, die sich unentwegt als Bildarchiv anhäuft.

Es ist angerichtet: Der Krieg auf dem Balkan, der Rechtsruck in Sachen Jugendkultur, die Aufweichung der sozialen Beziehungen als Folge der neoliberalen Mobilmachung, das ganze Schlamassel um arbeitslose Subjekte, denen nichts geblieben ist außer der Arbeit an ihrem kargen Subjektsein. Massenhaft sind die Verweise, aus denen Richters Bilder gestrickt sind. Dafür braucht es die schweren Geschütze aus hundert Jahren Kulturgeschichte, mit denen er sich bewaffnet hat – und Spaß soll es natürlich auch noch bringen, wenn er auf einem Gemälde wie dem 2002 entstandenen „Gedion“ den Ausruf von Jörg Immendorf zitiert: „Hört auf zu malen!“. Umgekehrt lässt die kahle graublaue Front des Kaufhauses aus dem Horten-Imperium aufgrund der von Richter ausgelassenen Fassadenbuchstaben die Losung zu: „Hört auf zu bauen!“ Das wäre ein Triumph des Bildes, das die beschädigte Wirklichkeit durch Entstellung kenntlich macht.

Ohnehin breiten sich die Verzerrungen bei Richter in alle Richtungen aus. Die Figuren liegen unter einem irisierenden Schleier grell leuchtender Farben, passend dazu taumeln die Menschen wie Zombies durch das Geschehen.

Nicht allein ihre Erscheinung bleibt verschwommen, auch die Aktionen sind oft kaum entschlüsselbar. Dann hocken gespenstische Wesen in einem verschlungenen Baum, unter dem ein Kind sich zum Schlafen gelegt hat – ob sie über den Jungen wachen oder ob sie ihn bedrohen, muss der Betrachter selbst entscheiden. Der Titel „Konstruktion (in jenem Traum)“ gibt da wenig Aufschluss, er verdoppelt noch die ruhige Unheimlichkeit, die sich von der Wahl des Motivs auf dessen Darstellung überträgt. Auch in der Szenerie auf „Dog Planet“ lässt sich nicht entscheiden, ob die mit Helmen, Schlagstöcken und Kampfhunden ausgestattete Gruppe aus Polizisten oder Streetfightern besteht.

Darin bietet Richters Auslegung von Konflikt und Politik letztendlich weit mehr Anlass zur Sorge als etwa Carl Schmitt, der politische Handlungen auf die Unterscheidung von Freund und Feind reduziert hat. Niemand wird ausgeklammert, keiner wird verschont, auch das gehört zur Logik der allgemeinen „Entsicherung“, von der Tom Holert und Mark Terkessidis in ihrem kürzlich erschienenen Buch über „Krieg als Massenkultur des 21. Jahrhunderts“ schreiben.

Doch die Macht des Faktischen, die in solch undurchsichtigen Konstellationen aufblitzt, kann kein Gemälde fassen. Erst recht nicht, da es doch, wie Richter stets beteuert, als gemaltes Bild immer schon und zuallererst Selbstbehauptung ist und nicht Abbild einer konkreten Wirklichkeit. Das können Fotografie und Video viel besser. Stattdessen treibt Malerei, bei Richter nicht anders als im Wust seiner historischen Vorbilder und Zitate, eine mögliche Verdichtung von geschichtlichen Momenten voran, die sich auf Augenhöhe mit der Realität befindet. Édouard Manet hält die Erschießung Kaiser Maximilians fest, ohne dabei gewesen zu sein; dafür schärft seine Auslegung das Drama im Nachhinein über das Ereignis hinaus. Bei Richter dagegen tanzen auf dem Bild „Billard um halb zehn“ irre Gestalten um eine weiß glimmende, aber völlig abstrakte Fläche – vielleicht ist es Feuer, vielleicht auch nicht; vielleicht sind es Nazis, vielleicht drei verstrahlte Raver nachts im Wald. Wichtig ist nur, dass es eine Spannung gibt, die kein Kontext auflösen kann. Das reicht für Richter als eine Allegorie auf Ereignisse, die nur in der künstlerischen Ausformung bestimmt sind – ein diffuser Schrecken, dessen Bedrohlichkeit sich unmittelbar vergegenwärtigt.

Das klingt nach Gothic und Hysterie, ein kleines bisschen auch nach Horrorschau. Nackte Figuren toben um eine magmarote Schlucht, ätherische Wesen sehen erstarrt einem Leichnam im Wasser zu, der vorbeischwimmt. Der Wahnsinn des Fin de Siécle – jetzt auch als gemalter Samplepop für das Leben mit MTV? Im Idealfall wird mit solchen Stilisierungen fortwährend die Wirklichkeit wenigstens der Malerei erzeugt: Kein empirisches „So war es“, kein Punktum, wie Roland Barthes das Vermögen der Fotografie nennt, sondern ein „So könnte es gewesen sein“, das sich stets im Dialog mit dem Betrachter einlösen muss. Jeder hat da seine ganz privaten Vorlieben und Vorstellungen.

Deshalb verschwindet noch lange nicht der Produzent im offenen Feld solcher frei flottierenden Ausdeutungen, er wird in der Schieflage erst richtig sichtbar: „Ich male Bilder, die ich selber sehen will“, heißt das im Gespräch mit Richter, und er meint es aus voller Überzeugung. Dann fügt er an: „Das macht mich als Maler aber nicht zu einem über allen Dingen stehenden Künstlerindividuum, das ist die alte Verklärung. Was in der Malerei bleibt, ist ihre Geschichte, die ständige Neuinterpretation von dem, was man irgendwann gesehen hat und in der eigenen Arbeit überprüft.“ Diese Einstellung könnte auch zu Hubert Fichte passen und seinen Wandel zum Romane schreibenden Ethnologen erklären. In seiner Malerei hat Richter jedenfalls beides: Teilhabe und Beobachtung.

Bis 19. Januar, Ständehaus K 21,Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf