„Southern Discomfort“

Mit dem Rezept „Phil Spector meets Kraftwerk“ ist Billie Ray Martin vielleicht noch nicht zu einer der berühmtesten Soulsängerinnen geworden, wohl aber zu einer der besten. Die aus Hamburg stammende Singer-Songwriterin sagt: „Bei mir muss es tuckern und piepen.“

Interview REINHARD KRAUSE

Billie Ray Martin wurde 1989 als Gründerin und Sängerin der britischen Band Electribe 101 zu einer festen Größe der House-Musikszene. Seither hat sie kontinuierlich an ihrer Vision eines „Elektronic Soul“ gearbeitet. Nach der Auflösung der Band veröffentlichte sie in zeitlich oft großen Abständen Soloplatten. Von den Einnahmen ihres größten Hits „Your Loving Arms“ erfüllte sie sich einen lang gehegten Traum – ein Album in Memphis aufzunehmen, mit Gastmusikern wie Ann Peebles („I Can’t Stand the Rain“). Heute lebt Martin in Berlin. Ihre Platten vertreibt sie auf einem eigenen Label.

taz.mag: Miss Martin, Sie haben kürzlich im Electric Cinema in der schicken Londoner Portobello Road die Clubszene zu Begeisterungsstürmen hingerissen, indem Sie zu Roman Polanskis Spielfilm „Ekel“ eigene und fremde Songs sangen. Was war das für eine Show?

Billie Ray Martin: „Ekel“ ist einer meiner Lieblingsfilme. Es gibt bei meiner „Repulsion“-Show immer johlendes Publikum, weil ich die abstrusesten Songs singe zu dem, was auf der Leinwand passiert. Das ist eine nur teilweise ernsthafte Performance. Ich beginne mit düsteren Titeln wie „Persuasion“ oder den „Ambient Tales“, und bis dahin könnte man meinen, okay, sie untermalt das Geschehen ganz nett. Aber dann bringe ich „This Town Ain’t Big Enough For Both of Us“ von den Sparks, wenn Catherine Deneuve den Hausmeister absticht. Und wenn sie den Korridor langgeht und Arme aus der Wand kommen, singe ich „Put Your Loving Arms Around Me“. Bei der allerersten Show waren alle total perplex. Keiner hat gewagt, etwas zu sagen. Aber hinterher haben alle geschrien. Am zweiten Abend wussten alle schon, hier wird’s lustig. Die Show wiederhole ich übrigens am 4. Januar im ICA, London. Und eine Woche später in Brighton. Ich freue mich schon riesig.

Wird man das in Deutschland eines Tages auch einmal erleben können?

Kann ich ja mal machen, wenn das jemand bezahlen möchte.

Als Soulsängerin haben Sie von London aus Karriere gemacht. Seit wann leben Sie wieder hier?

In Deutschland bin ich seit drei Jahren wieder, erst in Hamburg, jetzt in Berlin.

Was zog Sie her?

Ich wollte zurück in meine Heimatstadt. Ich wollte einfach raus aus dem Musikbusiness, raus aus New York, raus aus London, und mich ausruhen von dem ganzen 24-Stunden-Job, den ich zehn Jahre lang durchgezogen hab’.

Sie wollten komplett Schluss machen mit der Musik?

Zu der Zeit wollte ich es. Aber das hat nicht lange gehalten. Denn dann kam endlich Schwung in das „18 Carat Garbage“-Album, das dann zwischen Hamburg und Memphis entstand.

Moment, Sie wollten gerade mit dem Singen aufhören, und just in dem Augenblick klappt es plötzlich mit Ihrem lange gehegten Traum, eine Art „Billie in Memphis“ aufzunehmen?

So ist es. Vier, fünf Jahre lang habe ich daran gearbeitet, Ann Peebles dazu zu bringen, für mich Backing Vocals zu singen. „18 Carat Garbage“ entstand über einen so unendlich langen Zeitraum, eigentlich hätte es schon nach den Demos gereicht zu sagen: „So, und jetzt etwas Neues!“ Im Moment genieße ich es, spontan Songs zu schreiben und schon am nächsten Tag zu planen, wie geht’s jetzt weiter, wem geb’ ich das Material?

Was war denn so schwierig daran, Ann Peebles zu überzeugen? War sie kapriziös oder lag es daran, dass sie ein bisschen christlich ist?

(lacht) Ein bisschen ist gut! Die sind alle komplett christlich. Da gibt’s keine Lücke, durch die man schlüpfen könnte, indem man sagt: „Ach komm, sing das doch mal!“ Die würden nichts singen, was ihnen komisch vorkommt.

Dann mussten Sie also erst Textexegese treiben?

Jahrelang! Ann Peebles hat gesagt, sie singt gern „Ten Minutes on a Tuesday Afternoon in Buffalo“. Aber „18 Carat Garbage“ kommt nicht in die Tüte.

Worum geht es denn in dem Song?

Es geht um eine durchgeknallte Hollywoodschauspielerin, die nachts ihren Kollegen auflauert und ihnen nachspioniert. Denn sie kann sich nicht vorstellen, dass das ganze Getue auf den dekadenten Hollywoodpartys irgendetwas mit der Realität zu tun hat. Sie will einfach wissen, was wirklich hinter deren vier Wänden vorgeht. Irgendwann, nach Jahren, hat Ann Peebles gesagt: Ach, was soll’s?! Wenn man sich das Tape nimmt und hört, wie sie da rumschreit, das ist toll! Eigentlich wollte sie immer nur so halbe Verse singen, aber dann hörst du, wie sie gar nicht aufhören konnte. Sie zieht richtig vom Leder – das klingt dreckig wie sonstwas, mit dieser heiseren Stimme. Sie wurde einfach von der Musik mitgerissen.

Seit ein paar Tagen gibt es nach dem Album nun auch zwei CDs mit den Remixen und den Demoversionen. Die Demos klingen, als wollten Sie den Musikern in Memphis zeigen: „Hey, wir machen Musik, die klingt wie das, was ihr macht.“

Stimmt. Die haben genau die Fassungen zu hören gekriegt.

Und was haben die dann zum fertigen Album gesagt, mit den ganzen elektronischen Überarbeitungen?

Da habe ich wenig Feedback bekommen. Im Endeffekt sind das Sessionmusiker, die hörst und siehst du nie wieder. Aber von Ann Peebles Manager Paul Brown habe ich Mails gespeichert, in denen er mir schreibt, wie toll er alles findet – sogar die Remixe.

Sie gelten als Kontrollfreak, der nicht für fünf Minuten das Studio verlässt, aus Angst, irgendetwas könnte in der Zwischenzeit verhunzt werden. Andererseits geben Sie Ihre Singles immer DJs zum Remixen. Welche Bedeutung haben Remixe für Sie?

Dass ich sie mir nicht anhöre! Weil ich (lacht schallend) Kontrollfreak bin! Ich höre mir die nur an, wenn die von Leuten kommen, auf die ich sehr gespannt bin.

Aber wer erteilt dann den Auftrag für einen Remix?

Der wird schon mit meiner Zustimmung erteilt. Weil man eben Remixe braucht. Aber eigentlich interessieren sie mich nicht. Mir wär’s lieber, man bräuchte sie nicht. Ich bin freudig überrascht, wenn sie gut sind, wie beim Zerocrop Mix. Ich überlasse die Auswahl der Plattenfirma, weil ich denke, die haben den besseren Überblick als ich.

Der Gedanke hinter Remixen ist, dass eine Single in den Clubs gespielt und dann womöglich auch das Album gekauft wird.

Das ist deren Marketinggedanke, nicht meiner. Ich mache mir keine Gedanken, wer meine Musik kauft und ob die jemand kauft. Klubsound bei einer Ballade finde ich nicht notwendig. Bei den neuen Sachen, an denen ich gerade arbeite, habe ich allerdings gemerkt, es gibt viele Up-tempo-Nummern, so Donna-Summer-Moroder-mäßig, da machen Remixe Sinn. Da entwickele ich auch wieder Interesse und sage: Der Song wird mir nicht kaputtgemacht. Ich suche mir Leute, von denen ich vermute, sie machen was Schönes daraus. Im Moment verhandle ich mit Mark Moore, der früher S-Express gemacht hat und jetzt Needle Dust.

Sie kommen gerade aus Griechenland. Was haben Sie dort gemacht?

Mit Mikaël Delta, einem griechischen Elektronikmusiker, hatte ich vorher schon long distance Demos von zehn Songs aufgenommen, an denen wir in Athen weiterarbeiten wollten. Vorher (lacht) sollte ich Urlaub auf Mykonos machen, aber ich fand es ganz furchtbar da. Die ganze Zeit habe ich nur Tierschutz gemacht und Hunde gerettet. Da bin dann schnell wieder abgereist. In Athen war es leider ganz ähnlich. Nach einem Tag Athen bin ich zurückgeflogen.

Nach nur einem Tag? Wie sind Sie denn auf Mikaël Delta gestoßen?

Ich bekam eine E-Mail von seiner Plattenfirma in Paris, ob ich nicht Lust hätte, auf einer Single von ihm zu singen, „I’m Not Keen“. Die ist gerade erschienen. Das Ganze lief so gut, dass wir beschlossen haben, mehr zu machen. Er schickt mir die Tracks, ich schreibe die Songs, dann editiere ich mir die Songs zurecht und schicke sie ihm zusammen mit den Vocals. Eigentlich wollten wir in Griechenland an Details arbeiten. Jetzt müssen wir uns eben wieder alles zuschicken.

Sie brauchen zum Schreiben immer einen Konterpart?

Ja, jemanden, der erst einmal die Musik vorbereitet. Ich mache dann die Vokallinien und schreibe den Text. Und dann koproduziere ich die Tracks.

Wie erleben Sie es, das eigene Material nun selbst zu vermarkten – als Befreiung oder als mühseliges kleineres Übel?

Ich mache schon oft den ganzen Tag nur Organisatorisches, nehme Kontakt auf mit irgendwelchen Shops und so weiter. Aber vermarktet habe ich mich schon immer selbst. Ich habe immer gesagt: Hier sind die Songs, hier sind die Fotos, hier ist das Videoskript, hier bin ich, so sehe ich aus, hier ist die Geschichte …“

und hier ist die Grenze?

(lacht) … und hier ist die Grenze! Genau! Ich bin leider – wirklich leider – nie ein Mensch gewesen, der sich einfach zurücklehnt und sagt, ich konzentriere mich ganz auf meine Musik. Das sollte ich mal tun. Aber ich hatte immer so komische Managements, die nicht unterstützend gewirkt haben. Ich musste irgendwie immer alles selber machen. Mal sehen, was sich da in der Zukunft noch tut. Im Moment bin ich gerade mit einem Management in Kontakt.

Das eigene Label ist also nicht zwingend die letzte Lösung?

Ach nein. Vieleicht gibt es ja tatsächlich irgendwo ein Management, das einfach mal (lacht) arbeitet. Und das vielleicht auch mal Ideen an mich heranträgt, solche Dinge! Das generelle Problem schon seit Jahren ist dies: Ein Management nimmt dich nur unter Vertrag, wenn du schon eine Hitsingle hast oder gerade dabei bist, eine zu haben. Und dann wird gearbeitet für die Zeitspanne, wo Geld reinkommt. Dann nicht mehr. Das Management springt auf den Wagen, wenn er fährt, und springt auch ganz schnell wieder ab.

Bei Ihren Songs fällt die Widersprüchlichkeit auf, die Ihrer Musik schon die lustigsten Bezeichnungen eingetragen hat: „House Noir“, „Soul Without Sex“, „Genuinely Psychedelic Dance Music“ – ich würde für „18 Carat Garbage“ noch ergänzen „Southern Discomfort“, denn die Musik ist warm und etwas gruselig zugleich.

(lacht auf) Ja, das passt! Aber wenn wir schon von gruselig reden, dann hören Sie sich mal meine neuen Sachen an. Dagegen ist „18 Carat“ der reinste Ringelpietz beim Kaffeekränzchen. Die neuen Songs sind richtig böse!

Warum arbeiten Sie mit diesen permanenten Brüchen: der warmen Stimme zu kühlen Sounds, den abgründigen oder melancholischen Texten zu Dancetracks?

Es geht gar nicht ohne Brüche, sonst bewegt man sich im Klischeehaften – todlangweilig! Meine Co-Writers kennen den Spruch von mir: Keine Akkordfolgen, die ich schon mal gehört habe! Wenn jemand das kann, hat er meine absolute Hochachtung. Kann er’s nicht, dann tut’s mir leid, dann ergibt sich nichts. Schon in den Akkorden muss der Überraschungseffekt drin sein. Natürlich kannst du einen Al-Green-Song nehmen und die Akkorde kopieren. Und du kannst dir sagen, wenn ich Glück hab’, schreibe ich trotzdem einen etwas anderen Song. Tust du aber nicht, finde ich. Du schreibst denselben Mumpitz noch mal. Also muss von vornherein ein Bruch da sein. Dann sage ich, der Sound wird nicht die schlichte Kopie von irgendeiner Soul- oder Elektronikplatte. Sondern ich frage mich, was sagt mir der Song? Brauche ich Gitarren, brauche ich Streicher oder nur Elektronik? Soll es Hardcore Industrial rüberkommen oder mehr in eine nette Soulrichtung gehen? Da werden die Brüche noch weiter konzipiert. Viele, auch junge Produzenten, mit denen ich zusammenarbeite, sagen: Ist doch toll, wenn’s eine Kopie wird. Oder: Macht doch nichts! Aber für mich muss es immer einen Clash geben. Das ist doch die Spannung!

Und wie wichtig ist dabei die Tanzbarkeit?

Die Idee, elektronischen Soul zu machen – das einzige Label, das ich mir aufkleben lasse, auch wenn mal der Soul und mal die Elektronik überwiegt –, hatten wir schon Mitte der Achtziger in Berlin. Damals gab’s die ganzen Elektronikbands. Wir haben alle Depeche Mode nachgemacht mit den ersten Synthesizern. Und ich sang immer Gospel (lacht) und wusste gar nicht so genau, was ich mit mir anfangen soll. Das änderte sich, als ich nach London ging und gerade die ersten Chicago-House-Sachen rauskamen. Damit war’s besiegelt. So gründete ich Electribe 101. Ich fragte die Jungs: Wie findet ihr den Sound? Und die sagten: Genau das wollen wir auch machen. Und dabei ist’s im Grunde bis heute geblieben. Jeder, dem ich meine neuesten Demos vorspiele, fragt, ob sich Electribe 101 wieder reformieren. Finde ich natürlich schön, zu merken, dass mich das wieder interessiert.

Auch das Minimalistische?

Ja, schon, aber Electribe zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass da nicht immer dasselbe Arrangement durch den Song tuckerte, wie das heute immer so ist. Da kam schichtweise und soundweise immer etwas Neues dazu und das Arrangement hat dich irgendwohin geführt. Electribe-Maxis mit zwanzig Minuten Dauer konnte man durchhören, ohne zu denken: Oh je, jetzt geht’s wieder von vorne los. Mich interessiert es, einen bestimmten Soundteppich zu kreieren, etwa durch eine Mischung von Phil Spector und Kraftwerk.

Verstehen das sofort alle, mit denen Sie zusammenarbeiten?

Nicht immer. Mir fällt auf, dass die wenigsten Musiker sich auskennen und Namen kennen, ob das nun Phil Spector ist oder (lacht) Electribe 101. Oder Motown, Norman Whitfield oder Al Green. Ich muss den Leuten oft erst die Schallplatten geben, und das erschreckt mich, weil ich eigentlich vorausgesetzt habe, dass man sich als Musiker informiert, was es so an bahnbrechenden Entwicklungen gegeben hat.

War die gemeinsame musikalische Basis vor zwölf Jahren größer?

Die House Community war damals so etwas wie eine weltweite Familie. Die Chicagoer kannten unsere Arbeit und erzählten uns, wie toll wir sind. Und wir sagten, um Gottes Willen, das haben wir doch alles von euch abgeguckt! Da war ein großer Respekt und ein Zusammengehörigkeitsgefühl aus dem Bewusstsein, dass man einen ganz neuen Sound kreiert. Das Gefühl hast du heute nicht mehr. Du benutzt Dinge, die damals entstanden sind. Wenn der Larry-Heard-Mix kam oder der Frankie-Knuckles-Mix, dann hat man sich tierisch gefreut. Es wurden zwar auch gelegentlich Mixe getrasht, aber man hatte das Gefühl, etwas zu verändern.

„18 Carat Garbage“ ist mehr ein Geheimtipp geblieben. Wieso ist es so schwer, ins Radio zu kommen?

Playlisten werden von Computern erstellt. Wenn du bereits in den Charts bist, kommst du da rein. Wenn es nach den Radio-DJs ginge, würde ich sicher mehr im Radio gespielt. In Berlin gibt es ein paar Stationen, die Sachen von mir auf die Playlist genommen haben. Aber Radio ist schwierig, und deshalb werde ich auch nie versuchen, auf einen Radiohit hinzuarbeiten, auch vom Sound her. Wenn man so was macht, das geht in die Hose. Man sollte nur das machen, woran man glaubt. Der Produzent Youth, früher Bassist bei Killing Joke, hat vor kurzem einen Song mit mir aufgenommen – der Song war toll, aber ich fand es nur furchtbar, das war nicht mein Sound! Er hat gesagt: Doch! Beats and Strings! So richtig fette Big Beats und dann Streicher drüber und dann Billie! Aber bei mir muss es tuckern und piepen, sonst ist bei mir nichts. Und er: Nein, das ist der Sound, der bei Radio One läuft, so kommst du da rein. Das hat mich völlig verunsichert. Dann bin ich spazieren gegangen, und nach zehn Minuten war ich schon wieder bei meinem Sound angekommen. Er hat Unrecht. Zu dem Zeitpunkt, wo der Song rauskommt, wird der Sound schon wieder überholt sein. Ich muss den Song jetzt ganz neu aufnehmen. (lacht schallend) Aber ich hab’s wirklich versucht.

REINHARD KRAUSE, 41, ist taz.mag-Redakteur