„Großteil der arabischen Kultur ist pure Ideologie“

Wir Kommunisten waren zugleich maoistisch, feministisch, liberal

Interview HEIKE HAARHOFF

taz: Willkommen zu Hause.

Abbas Beydoun: Wie bitte?

Willkom…

Wie zu Hause ist es hier nicht gerade. Es ist eiskalt in Frankfurt, ich musste mein kurzärmeliges Hemd gegen Schal und Wintermantel tauschen, und mein Empfang … Ich bin überrascht, wie freundlich und zuvorkommend ich heute am Flughafen behandelt wurde, vermutlich, weil ich internationaler Konferenzteilnehmer auf der Buchmesse bin. Seit dem 11. September 2001 hat der Westen die Kontrollen gegen Leute, die aus arabischen Ländern kommen oder bloß aussehen wie ich, ziemlich verschärft.

Sie haben doch gesagt, der Westen sei die zweite Heimat für arabische Intellektuelle. Er sei ihnen näher als die meisten anderen Länder einer in sich disharmonischen und nur durch den Namen „Orient“ verbundenen Welt.

Ich hab so was Essayistisches gesagt?

In As-Safir, Ihrer eigenen Zeitung in Beirut.

Aha. Gemeint habe ich: Der Begriff Orient ist ein künstlicher, vom Okzident erfundener. Für uns arabische Intellektuelle ist er bedeutungslos. Er wirft Inder, Chinesen, Afrikaner, Araber in einen Topf, höchst unterschiedliche Menschen also, die sich nur in einem gleichen: nicht zum Okzident zu gehören, beziehungsweise vom Okzident per Negation als nicht dazugehörig definiert zu werden. Tragisch ist das freilich für den Okzidentalen: Denn natürlich kann er uns nicht völlig ausgrenzen, natürlich ist der Westen auch für uns in gewisser Hinsicht Heimat, denn eine andere haben wir ja nicht mehr: Ich bin libanesischer Araber, ich schreibe auf Arabisch, aber ich bin durch das westliche Modell geprägt, wie übrigens alle zeitgenössischen Maler, Musiker, Schriftsteller automatisch auch.

Wieso ist das ein Automatismus?

Es existiert auf dieser Welt nur noch eine Kultur, und diese ist die westliche Kultur. Unsere Kultur ging mit dem Beginn der westlichen militärischen, ökonomischen und kulturellen Invasion verloren, kurz: mit dem Kolonialismus. Die Araber haben sich seitdem im Rekordtempo an den Westen angepasst. Es wäre absurd, heute behaupten zu wollen, es gäbe etwa eine arabische Psychologie, eine arabische Anthropologie, eine arabische Literaturkritik. Alle diese Disziplinen sind westlicher Prägung. Was bleibt, ist der Versuch, die westliche Kultur auf die arabische Realität zu übertragen. Ihre rasche Selbstaufgabe haben sich viele arabische Muslime bis heute nicht verziehen, und deswegen behaupten sie das Gegenteil, werden fanatisch, öffnen sich um ihrer eigenen Identität willen – die ja nie etwas mit Realität zu tun hat – zweifelhafter Propaganda und Ideologie.

Und diese Schuldgefühle dienen als Ursache des allgemeinen Hasses gegen den Westen?

Die gesellschaftliche und kulturelle Krise der Araber besteht darin, dass ihre Gesellschaft und Kultur nahezu auf ewig unfähig sind, zeitgemäß zu sein. Also tun sie alles, um den Westen einzuholen, mit ihm gleichzuziehen, von ihm anerkannt zu werden. Seit mehr als einem Jahrhundert träumen wir von Dingen, die wir doch nie verwirklichen. Umso größer ist die Resignation über das Scheitern. Über die Erkenntnis, dass der Westen unerreichbar ist. Es ist eine Tragödie der Ohnmacht, die viele Menschen ins Fabulieren und Romantisieren treibt. Die Folgen sind katastrophal. Die Menschen besinnen sich wieder stärker auf ihre Herkunft, auf ihre Religion; sie radikalisieren sich als Reaktion auf den Westen, der sie nie anerkannt hat und den sie nun im Gegenzug auf der intellektuellen Ebene ablehnen, und zugleich bestreiten sie die Tatsache, dass der Westen im Zeitalter der Globalisierung trotzdem weiter ihr Leben bestimmt: mit Videokameras, mit Autos, mit Computern. Und auch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Was wäre die Alternative?

Es gibt keine. Es ist ein auswegloses, unlösbares Problem. Man kann ja nicht die Vergangenheit ausradieren und sich eine ganz neue Gesellschaft schaffen. Aber man kann sich mit der Gesellschaft auseinander setzen, sie widersprüchlich, manchmal lächerlich, sicher nicht immer rühmlich, aber stets kritikwürdig finden.

Wenn es um Kritik an westlichen Gesellschaften geht, findet diese Auseinandersetzung unter arabischen Intellektuellen statt, wortreich und stereotyp: die arabischen Völker als Opfer der Unterdrückung, der koloniale Westen als Täter. Warum ist das Schweigen so laut, wenn es um die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen, arabischen Gesellschaft geht?

Ich glaube, dass ein Großteil dessen, was heute als arabische Kultur gehandelt wird, nichts als pure Ideologie und Propaganda ist. Man bietet es uns als Philosophie und essayistische Gedanken an, aber tatsächlich ist es nur flach.

Intellektuelle sind gemeinhin das Gegenteil von flach.

Das ist doch das Problem! Die arabischen Intellektuellen sind in einer Krise. Die meisten von ihnen hängen aus den Gründen, die ich die „Tragödie der Ohnmacht“ genannt habe, einer Positivkultur an, die das Gegenteil von Hinterfragen und Anzweifeln ist, die statt dessen das Volk und seine Traditionen streichelt, aber eben auch seine Aggressionen. In der Debatte nach dem 11. September habe ich den arabischen Intellektuellen vorgehalten: Ihr seid nicht imstande, euch an die Stelle des anderen zu versetzen, und diese Tatsache treibt euch zu schizophrenem Verhalten. Plötzlich spielt ihr, die ihr immer die Unabhängigkeit vom religiösen Diskurs gutgeheißen und sie als Bedingung für das Entstehen von Kultur erachtet habt, euch zum Verteidiger einer Religion auf, aus dem einzigen Grund, dass diese Religion vom Westen kritisiert worden ist.

Warum lassen sich Intellektuelle in dieses politische Freund-Feind-Schema pressen?

Sie merken nicht, dass sie sich von den Islamisten vereinnahmen lassen. Ich habe ihnen gesagt: Eure Empfindlichkeit richtet sich immer nur dann gegen jede deutliche Stellungnahme dieser Art, sofern sie aus dem Westen kommt. Dabei war es der Westen, der eine ethische und kulturelle Werteordnung entwickelt hat, die Minderheiten anerkennt und westliche Maßstäbe und den Eurozentrismus kritisiert. Derweil wir den Sieg der Einheit und Gleichmacherei über die Vielfalt und Meinungsverschiedenheit allzu oft billigten und geschwiegen haben, als bei uns Minderheiten unterdrückt wurden. Ich habe ihnen gesagt: Statt Rechenschaft von anderen zu fordern, sollten wir erst einmal unsere Kultur von ihrer Dünkelhaftigkeit befreien. Aber wie es scheint, ziehen manche Intellektuelle – mag ihr Vorwurf der Ausbeutung durch den Westen auch nicht falsch sein – in ihrem Innern lieber einen kleinen Bin Laden heran. Der hilft dann, jede Rechenschaft gegenüber uns und anderen aufzuschieben, bis die historische Rache am Westen vollzogen ist. Das alles habe ich ihnen in einem langen Artikel in As-Safir gesagt.

Dann ist der Besuch der Frankfurter Buchmesse also Auftakt Ihres Lebens im unvermeidlichen Exil?

Ach was. Dieser Artikel hat nicht die geringste Bedeutung erfahren. Man hat ihn schlicht nicht gelesen, oder, sagen wir mal, sehr wenige haben ihn gelesen.

Es wäre absurd zu behaupten, es gäbe eine arabische Psychologie

Das glaube ich Ihnen nicht.

Ich bin halt kein Bestsellerautor. Aber im Ernst: Die Elite in der arabischen Welt, die solche Artikel liest und versteht, ist sehr gering. Als ich den Artikel in Deutschland veröffentlicht habe, gab es dagegen sehr große Reaktionen – aus dem Westen.

Was tun Sie gegen den Frust?

Seit ich nicht mehr Revolutionär bin, leide ich nicht mehr so sehr darunter. Ich war von 1965 bis 1972 Mitstreiter in einer Organisation, die „Kommunistische Aktion Libanon“ hieß. Wir waren zugleich maoistisch, feministisch, demokratisch und liberal. Gut, was? Und dann hofften wir, dass die Palästinenser unserer so wenig revolutionären libanesischen Gesellschaft ein wenig bei der Revolution helfen würden. Heute schreibe ich Zeitungsartikel.

Was schreiben Sie denn so über USA und Irak?

Wir sind da in einem Dilemma. Keiner der arabischen Intellektuellen wird sich auf die Seite der USA stellen, ich auch nicht, und das, obwohl es den meisten schwer fällt, Saddam Hussein zu verteidigen. Meiner Meinung nach ist er ein großer Despot, ein Krimineller, ein Verrückter. Ich weiß, dass ich nicht wirklich unglücklich wäre, wenn er erst einmal gestürzt wäre. Es würde mir sogar gefallen, dass dieser Typ endlich bestraft wird.

Aber nicht durch die USA?

Nicht auf diesem Weg. Sehen Sie, mir geht wirklich nahe, was im Irak passiert: Durch meinen Körper fließt irakisches Blut. Die Familie meiner Großmutter wurde nach dem ersten Golfkrieg gefoltert und aus dem Land gejagt, weil sie angeblich iranische Wurzeln hatten. Ich bin der Letzte, der sich für Saddam Hussein stark machen würde. Trotzdem haben die USA kein Recht, dem Irak jetzt eine „Lektion“ zu erteilen. Warum haben sie denn erst dieses rückwärtsgewandte System so lange unterstützt? Warum haben sie nie zuvor die Frage nach seiner vermeintlichen Demokratie gestellt? Warum wollen sie ihm jetzt die biologischen Waffen wegnehmen, zu deren Entwicklung sie ihm zuvor selbst verholfen haben? Das sind Fragen, auf die ich eine Antwort möchte. Sie haben nichts mit antiwestlicher Einstellung zu tun.