Romantische Welt

Routen durch den Dienstleistungsdschungel: In „24 Stunden sind kein Tag. Escape from New York“ darf René Pollesch seine postfordistischen Themenläden in einer kompletten Stadt eröffnen. Als Fluchtpunkt bleibt my private Gütersloh

„Zurückblaiben, bittäää!“ Mit verquollenen Augen imitiert einer aus der finnischen Schülergruppe, die es mit der U 2 in den Berliner Nordosten verschlagen hat, die wohl schönste Form staatsbürgerlicher Kommunikation. Die Meute fühlt sich geil, und alles kann, alles darf passieren. In ihrer Heimat sprengte am Tag zuvor ein Altersgenosse sich selbst, einen als Clown kostümierten Luftballonverkäufer sowie mehrere Kunden einer Shopping-Mall in die Luft. Kaufhäuser haben – abgesehen davon, dass sie zu den Kathedralen der Neuzeit avanciert sind – anscheinend dieses Recht auf Attentate für sich gepachtet. Easy targets für terroristische Vereinigungen und Großstadtmüde.

Früher, als man Theater noch moralische Anstalten nannte und Programmhefte auf handgeschöpftem Papier druckte, hätte man aus einem solchen Vorfall ein Drama machen können. Eines um Schuld und Sühne, jugendlichen Furor und wie sich gesellschaftliche Instanzen darum bemühen, ihn einzuhegen im Schutzwall ethischer Postulate. Heute, da Theater Abbruchhalden sind und Programme kostensparend als CD-ROMs ausgegeben werden, überlässt man die ganze Wertekacke ihrer Dekonstruktion und delegiert sie einfach an René Pollesch.

In seinen bisherigen Arbeiten für die Volksbühne zeigte sich Pollesch immer an möglichen Ausstiegen interessiert, sei es aus der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, sei es aus der repressiv tolerierten Scheinselbstständigkeit oder den verordneten Rollenzuweisungen im Supermarkt der Gefühle, die hübsch popdialektisch gebrochen als „Sex and the City“ in die Bewusstseinsindustrie eingespeist werden. Doch den Weg zur Tür mit der Aufschrift „Exit“ wies auch er nicht, und so mussten Zuschauer wie Als-ob-Darsteller, eingepfercht in die Manege eines Theoriezirkus, den Drahtseilakt einer wenigstens heuristischen Benennung dieser ganzen Scheiße eben gemeinsam durchstehen. Polleschs serielles Diskurstheater etablierte sich als regelmäßige Feier der Überforderung, nur echt mit dem eingebauten Tourette-Syndrom (du Ficksau!), um die Leute bei Laune zu halten.

Für die neue Produktion „24 Stunden sind kein Tag. Escape from New York“, die am Samstag Premiere hatte, wurde ihm von Bert Neumann eigens eine Stadt errichtet, um das Themenknäuel von neuer Dienstleistungskultur, polizeilichem Überwachungswahn und neoliberaler Tristesse in einem entsprechenden Environment zu spiegeln. Den Bühnenraum dominiert nun die V-förmige Attrappe des Bordells „Romantic World“, behängt mit Monitoren und flankiert von einer großen Leinwand, auf der Filmclips gezeigt werden. Dort, wo sich sonst der Zuschauerraum befindet, säumen ein kleiner Einzelhandel, ein Friseursalon und eine Partnervermittlungsagentur die hölzerne Freitreppe, auf der Sitzkissen verstreut liegen. Auf diesem multifunktionellen Spielplatz dürfen Christina Groß, Nina Kronjäger und Catrin Striebeck ihre Zwangsidentitäten im Sekundentakt durchprozessieren: Dealerinnen, die nachgemachte Turnschuhe und Drogen in großen Koffern durch die Gegend schleifen; Nutten, die in Seitenstraßen schnelle Jobs offerieren; Arbeitsmigrantinnen, die ihre Routen durch den Dienstleistungsdschungel schlagen.

Es geht, wie immer bei Pollesch, um das Prekäre dieser Lebensweisen und ihre Verführbarkeit durch mediale Suggestionen. Zentrale Referenz im Zitatenwald ist diesmal John Carpenters Endzeitfilm „Klapperschlange“, in dem New York als ein Riesengefängnis inszeniert wird, als anarchistisches Chaos, unregierbar wie ein Dritte-Welt-Moloch. Der Überlebenswille von Snake Blissken, der fremdbestimmt durch eine Zeitbombe an der Halsschlagader versucht, den amerikanischen Präsidenten aus dem World Trade Center zu befreien, wird zum Leitmotiv für jene dynamischen Individuen im Kapitalismus gewendet, die sich Fassbinder-like um eine Verbesserung der Lage bemühen. Doch die „talentgeleitete Wirtschaft“ verbucht diesen Kampf als „temporäre Selbstorganisation“ und lässt als Fluchtpunkt nur my private Gütersloh.

Polleschs gewohnte Nebengags versüßen diese bittere Erkenntnis. Kinder von der mexikanischen Grenzregion spielen den Angriff auf das WTC mit Schokoriegeln nach. Und aus den Boxen ertönt „Under Pressure“ von Bowie und Queen: „It’s the terror of knowing / what the world is about / Watching some good friends / screaming let me out.“ JAN ENGELMANN