„Das bist du gar nicht“

Ein Nazijäger, der die Travestie liebt: Heute wird der Filmkritiker, Schauspieler und Oberstaatsanwalt a. D. Dietrich Kuhlbrodt 70 Jahre alt. Zum Jubiläum gibt es das autobiografische „Kuhlbrodtbuch“

von DETLEF KUHLBRODT

Als Oberstaatsanwalt hat Dietrich Kuhlbrodt Nazis verfolgt und in Christoph Schlingensiefs Film „Das Deutsche Kettensägen Massaker“ gleich nach der Wende hoffnungsfrohe Bürger der ehemaligen DDR zersägt. Der Träger eines antifaschistischen Ordens, Filmkritiker und Freund der Künste und KünstlerInnen, wird heute 70. In einem schönen Buch, das im Berliner Verbrecher Verlag erschienen ist, hat er seine Erinnerungen aufgeschrieben.

Im „Kuhlbrodtbuch“ geht es um vieles: Politik, Travestie, Geschichte und Uniformen; Filme, Theorien, Nazis, Familie, Sexualstraftäter und heilende Praktiken. Es geht um das, was geschehen ist und wie man sich erinnert und was in einem selbst aufbewahrt ist, von denen, die vor einem da waren oder mit einem leben – wie seine Frau, Brigitte Kuhlbrodt, die auch bei Schlingensief manchmal spielte und gemütskrank ist, seitdem sie in Polen Naziakten zur Vernichtung psychisch Kranker las. Mehrmals trat Dietrich Kuhlbrodt als seine eigene Frau auf, wenn sie nicht mehr konnte.

Travestie ist das aktive, künstlerisch politische Gegenkonzept zur Wiederkehr des Verdrängten, die man erleidet. Uniformen, Nazistiefel, selbst die Richterrobe verwandeln sich zur Theaterrequisite, die man mit Lust trägt. Alle sieben Jahre sind die Erinnerungsträgerzellen tot; so sollte man sie zwischendurch immer wieder mal erneuern, heißt es irgendwann im Buch.

Der Staatsanwalt ist der Konzentration verpflichtet, der Autor schreibt assoziativ. Es ist lehrreich und macht Freude, dem stream of consciousness zu folgen: „Ist das eine Autoreportage, wenn ich wiedergebe, wie Erinnerungen kommen und gehen? Für ein Buch braucht es dazwischen einen Stopp, um eine zu rauchen oder aufs Klo zu gehen.“

Dietrich Kuhlbrodt sagt, er sei schizophren und liebe die Travestie. Verwandte wie Fritz Kuhlbrodt stehen als Komödianten in den Anfängen der Lichtspielgeschichte. Es gibt auch Nazikuhlbrodts sowie „utopische Kuhlbrodts“, die nach dem Krieg erst nach Moskau, dann nach Chile gingen. In Ludwigsburg trat Kuhlbrodt 1965 seinen Dienst in der in einem ehemaligen Frauengefängnis untergebrachten „Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen“ an.

Dass diese Stelle als Schandfleck empfunden wurde, erwartet man. Die Details machen es aber aus: Zwei Tage nach Beginn seiner Tätigkeit „hatten die Nachbarn angezeigt, dass ich abends die Jalousien nicht runtergelassen und gleichwohl Kleidung abgelegt sowie morgens den Müll in die falschen Eimer entsorgt und die Kehrwoche nicht beachtet hatte. Ich musste gestehen. Die Beweise waren eindeutig, triumphierend führte mich die Schönste der Nachbarinnen auf den Dachboden, wo die Kontrollfäden, die sie ausgelegt hatte, unberührt waren, und zu einer der Fußmatten, die auf jedem Treppenabsatz lagen: drunter nicht gefegt! Aber es soll doch auch da appetitlich sein!“ Oder: Eine Bundeswehrkapelle zieht an der Zentralen Stelle mit Marschmusik vorbei, um den SS-General Dietrich feierlich zu Grabe zu tragen.

Andere Orte: Paris in den 50ern mit Juliette Gréco, Hamburg, Riga, Harare, Mülheim, Berlin, „die Kuhlbrodtheimat“, und als Filmlehrbeauftragter in Frankfurt „machte ich Stimmung für die Kultur der Filmrezeption. (…) Würde das gelingen, Studenten zu bewegen, statt übers Werk über sich selbst zu sprechen?“ Ist das old school? – Es gelang jedenfalls wohl, und „eine Studentin schrieb in ihrer Seminararbeit: ‚Meine Möse wurde feucht.‘ “

Wenn man das alles als Namensvetter liest, macht man sich natürlich auch so seine Gedanken. Meine Schwester Karin wurde in der Schule zum Beispiel häufig mit „Kuhlbrodt-Schulbrot“ geneckt, Kuhlbrötchen war nett, und der eigene Vorname gab nicht nur oft Anlass zu schwulen Assoziationen, sondern man musste auch immer erklären, dass das erste „e“ nicht hart gesprochen werden sollte, sondern weich wie in „egal“.

Seitdem ich in Berlin lebe, habe ich nur noch harte e’s, und seitdem ich für Geld schreibe, bin ich doppelt. Dietrich war vor mir da. Wir schrieben oft in denselben Organen und bekamen manchmal die Schecks des anderen. Einmal sagte auch jemand „Das bist du gar nicht“, als ich meinen Namen sagte.

Geehrt, aber auch etwas unwillig – als Arbeiter- und Flüchtlingskind, trara – hatte ich eine Weile mit dem ehemaligen Staatsanwalt E-Mails ausgetauscht, um herauszufinden, ob, wie und wo wir möglicherweise verwandt sind. Es kam nichts raus, auch wenn manche Züge Verwandtschaft nahe legen und wir ab und zu aus Spaß Onkel-, Vater-, Sohn-Behauptungen aufstellten. Wir sahen uns zum ersten Mal im Wahlkampf 98, als Dietrich Kuhlbrodt noch Chefideologe und Kandidat bei Schlingensiefs Partei „Chance 2000“ war und ich an einem Drogenbuch mit Bommi Baumann scheiterte. Später hatten wir beim Liebeskummerkongress in der Berliner Volksbühne einen gemeinsamen Auftritt.

Egal. Dietrich Kuhlbrodts Buch ist jedenfalls klasse, und „wem das zu viel wird in diesem Buch mit Anekdoten und Bildern, die etwas erklären (aber was?), den möchte ich aufs Kamera-Objektiv verweisen. Die Botschaft ist die Adresse. Zum Teil wenigstens.“

Dietrich Kuhlbrodt, „Das Kuhlbrodtbuch“. Verbrecher Verlag, Berlin 2002. 240 Seiten, 14 €ĽDer Autor stellt sein Buch übermorgen um 20 Uhr in Berlin im Roten Salon der Volksbühne vor.