Ein bisschen Autorität bleibt

Der Dokumentarfilm „Auf allen Meeren“ von Johannes Holzhausen zeichnet anhand der ehemaligen sowjetischen Kriegsflotte nach, wie ein Empire auseinander fiel, und doch folgt ein Reich dem anderen

von HARALD FRICKE

Aus dem Zerfall der Sowjetunion ergeben sich für den Dokumentarfilm einige Schwierigkeiten. Über Drehgenehmigungen wird vor Ort und meist willkürlich entschieden, die Preise sind oft unerschwinglich. Die Erinnerung von Zeitzeugen wiederum richtet sich nach den politischen Vorlieben, in die sie die Jahre nach Glasnost verschlagen haben. Daraus resultiert ein weites Feld der Mutmaßungen – mal zu sehr von den historischen Gegebenheiten entfernt, dann wieder zu nah an den Einzelschicksalen, um ein glaubwürdiges Gruppenbild der Gegenwart abzugeben.

Dagegen ist Johannes Holzhausens „Auf allen Meeren“ ein Glücksfall. Ungeheuer sorgfältig hat der österreichische Filmemacher das Moskauer Mosfilm-Archiv durchforstet auf der Suche nach Szenen aus alten Spielfilmen. Zum Beispiel ein junges Mädchen im Folklorekostüm, das auf dem Flugzeugträger „Kiew“ ein Lied über die Verteidigung des Sozialismus singt – und alle Matrosen hören ergriffen zu.

Bei Holzhausen gehört dieser Agitkitsch zum Selbstverständnis der früheren UdSSR, deren Wandel nach dem Zusammenbruch 89/90 er anhand der Exkriegsflotte nachzeichnet. Für diese Tour d’horizon waren die Bedingungen ideal: zwei Jahre Vorbereitungszeit, Interviewtermine mit Marineoffizieren, ein gut ausgerüstetes Kamerateam. Auf den Spuren des 1994 eingemotteten Flugzeugträgers „Kiew“ fächert Holzhausen elegant und ohne jeden Kommentar die Geschichte vom Niedergang der einstigen militärischen Supermacht auf. Der letzte Kapitän der „Kiew“ schnitzt Buddelschiffe an Bord, während seine Matrosen das 350 Meter lange Monstrum nach recycelbaren Gütern absuchen. Danach wird das Skelett an chinesische Treuhänder übergeben, die den Schrotthaufen mühsam an Skandinavien, Afrika und Indien vorbei nach Hause schleppen. Dort wird das Boot in ganz andere Dienste genommen: als schwimmender Amüsementpark.

Natürlich ist die Geschichte, die Holzhausen mit Hilfe der alten Militärs erzählt, furchtbar deprimierend. Wer früher das Kommando hatte, verdient sein Geld heute als Bademeister – ein bisschen Autorität ist auch in der Arbeit für die mittlerweile privatisierten Institutionen geblieben, den Rest regelt der Alltag zwischen Kleinfamilie und Kegelclub. Richtig unglücklich wirkt dabei jedoch keiner der Beteiligten. Die Pflicht ist erfüllt, das Leben geht weiter.

Nur ein früherer Bordingenieur findet sich nach den Jahren auf See nicht in der neuen Zeit zurecht. Er sah sich als Sowjetbürger immer als Teil eines Empire, das es nun nicht länger gibt. Deshalb fühlt er sich in der Ukraine, wo er mit seiner Frau wohnt, nicht wirklich heimisch. Das Land erscheint ihm als stets auf den eigenen Vorteil bedachtes, nationalistisches Bollwerk, aber nicht als Erbe jener Staatenallianz, für deren Schutz er einst auf dem Kriegsschiff mitfuhr. Umgekehrt hat sich ein anderer Offizier der „Kiew“ nach dem Ende der UdSSR einer neuen Gemeinde angeschlossen: Er ist jetzt Prediger in einem Dorf, das demnächst um eine gewaltige Neubausiedlung erweitert werden soll. Hier regiert die Gelassenheit – das eine Reich ist kaum gegangen, schon wächst das nächste heran.

„Auf allen Meeren“. Regie: Johannes Holzhausen, Österreich/Schweiz/Deutschland 2001, 95 Minuten