Ganz allein in diesem Universum

Der marxistische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton argumentiert in seinem fast enzyklopädischen Buch „Sweet Violence“ gegen den vermeintlichen Tod der klassischen Tragödie. Für ihn ist die Moderne selbst tragödisch geworden – in ihr trägt jeder Mensch das Potenzial eines tragischen Helden in sich

Eagleton interessiert der Mensch in seiner Verletzlichkeit und HinfälligkeitDer Sündenbock symbolisiert hier die soziale Ordnung in ihrem Versagen

von CHRISTIANE ZSCHIRNT

Wir leben in einer Welt, in der Tragödien geschehen. Die Bilder von Menschen, die durch Hunger, Krieg oder Naturkatastrophen bedroht werden, zeugen ebenso davon wie die Zeitungsnotiz über das Martyrium einer ermordeten Achtjährigen oder die begrabenen Hoffnungen eines Menschenlebens am Ausgang der U-Bahn-Station. Im Angesicht der Evidenz des Leidens gibt es keinen Grund, an der Existenz der Tragödie in der modernen Welt zu zweifeln.

Und doch: Die Literaturwissenschaft ist anderer Meinung. Die Tragödie – lautet das Urteil einhellig – ist tot. Natürlich sind wir nicht so verkommen, als dass uns das Schicksal des Ödipus, der Antigone, Lears oder Hamlets nicht zu Herzen gehen würde, aber die Literatur der Moderne selbst ist untragisch. Sie hat Beckett, aber keine Tragödien. Es ist diese Diskrepanz zwischen Theorie und Wirklichkeit, die den Widerspruchsgeist Terry Eagletons, des rebellischen Stars der intellektuellen Linken, herausgefordert hat. Vor wenigen Wochen ist in Großbritannien sein neues Buch erschienen: „Sweet Violence. The idea of the tragic“ (Blackwell, 398 Seiten, 14,99 £).

Wie kann es sein, fragt Eagleton, dass im 20. Jahrhundert mehr Frauen und Männer gewaltsam zu Tode gekommen sind als je in einer Epoche zuvor; dass das 21. Jahrhundert mit den Tragödien des 11. September und der anschließenden Bombardierung Afghanistans begonnen hat und wie es dennoch möglich ist, dass die Literaturwissenschaft sich nicht für die Form interessiert, welche die Literatur erfunden hat, um der Frage des menschlichen Leidens und seiner Relevanz für die ganze Gesellschaft auf den Grund zu gehen?

In seiner beeindruckenden Studie von nahezu enzyklopädischen Ausmaßen beschreibt Eagleton Theorie und Wirklichkeit des Tragischen. Er untersucht die Idee der Tragödie in Literatur, Philosophie, Ethik, Theologie und politischer Theorie von der Antike bis zur Postmoderne. Ein Buch über die Tragödie, das weiß Eagleton selbst, ist nicht gerade der Forschungsgegenstand, den man auf den ersten Blick von ihm erwartet hätte. Immerhin ist Eagleton der bekannteste zeitgenössische Theoretiker, der ohne ein Zeichen der Reue dem Marxismus treu geblieben ist – während die Tragödie die ehrwürdige Aristokratin unter den literarischen Gattungen repräsentiert. Üblicherweise steht die intellektuelle Linke ihr skeptisch bis feindselig gegenüber.

Eagleton tut es nicht. Auf den zweiten Blick wird klar, warum. Denn den Marxisten Eagleton interessiert der geschundene, der leidende Körper, der Mensch in seiner Verletzlichkeit und Hinfälligkeit. Im Gegensatz zur Mehrzahl seiner Kollegen aus den geisteswissenschaftlichen Fakultäten ist der Körper für Eagleton nicht unendlich formbar. Er ist nicht das, was unbegrenzt neu erfunden werden kann – weder durch Geschichte noch durch Kultur relativierbar.

Michel Foucaults und Judith Butlers Konzeptionen des instabilen Körpers als grenzenlos veränderbare Konstruktion qua Kultur entstammen für Eagleton einer zutiefst bürgerlichen (und amerikanischen) Ideologie der Machbarkeit. Daher stoßen sie bei ihm auf Granit – mit anderen Worten: auf sein Verständnis des Körpers als unhintergehbare Realität der materiellen Welt. „Irgendwann sterben wir ohnehin“, kommentiert Eagleton lakonisch den Pluralismus und Relativismus der Race/Class/Gender Studies. Das muss er tun, denn der sterbliche, an die Natur gebundene Körper ist Eagleton zufolge das, was wir in unserer Menschlichkeit teilen. Und er ist damit die Grundlage, von der aus politische Kritik formuliert werden kann. In diesem Sinne ist Eagletons Buch über die Tragödie und die soziale Dimension des leidenden Körpers ein politisches Buch.

Es geht darin um gewaltige Themen wie Schuld, das Böse, Schicksal, Bestimmung, Hoffnung. Es geht um katastrophale Wendungen des Lebens, um Opfer, die der Gemeinschaft zu bringen sind, um teleologische Dimensionen und metaphysische Fragen. Es ist der Versuch, die Widersprüche der modernen Welt mit dem Begriff des Tragischen zu begreifen und einen erneuerten Begriff der Tragödie auf die Tagesordnung der westlichen Kultur zu setzen.

Eagleton argumentiert gegen die These vom „Tod der Tragödie“: Als die Aufklärung Begriffe wie Status, Ehre, das Böse und Schicksal durch die weltlicheren Aspekte des Politischen, Sozialen und des Historischen ersetzt, schafft sie die Tragödie nicht ab, sondern erweitert sie auf die ganze Menschheit. Indem die Aufklärung das Allgemeinmenschliche konstatiert, trägt nun jeder das Potenzial eines tragischen Helden, einer tragischen Heldin in sich. In einer demokratischen Gesellschaft ist niemand davor sicher, ein tragischer Held zu werden.

Dies ist eine der Lektionen, die Hermann Melvilles Roman „Moby Dick“ erteilt, die große amerikanische Tragödie über die Freiheiten und Grenzen der demokratischen Gesellschaft. Der Erzähler erklärt darin, der Geist der demokratischen Gleichheit habe seine „königliche Robe der Humanität“ über die aus allen Teilen der Welt zusammengewürfelte Mannschaft des Walfängers „Pequod“ gebreitet – und die Seeleute damit gleichsam geadelt. Aber eben dadurch tragen sie nun auch die Qualität in sich, zu Protagonisten ihres eigenen Untergangs zu werden.

Im Unterschied zur konventionellen Theorie markiert die Aufklärung Eagleton zufolge also nicht das Ende der Tragödie, sondern wirkt quasi katalysatorisch: Die einzige Qualifikation, die man jetzt noch braucht, um ein tragischer Held sein zu können, ist, der menschlichen Spezies anzugehören. Ausgerechnet die universell verkündete Humanität wird zum Nährboden des Tragischen.

Es ist daher wohl auch kein Wunder, dass die Tragödie (trotz gegenteiliger Meinung der Literaturwissenschaft) bis in die Moderne überlebt hat – und zwar im Massenmedium des 20. Jahrhunderts: dem Film. Das ist allerdings ein Aspekt, mit dem Eagleton sich nicht aufhält. Wenn es darum geht, die Tragödie in der Moderne zu verorten, hat Eagleton eine These von ungleich komplexerem Ausmaß im Sinn.

Die Tragödie ist Eagleton zufolge im 20. Jahrhunderts nicht gestorben – sondern „zur Moderne mutiert“. Wenn man als Grundmoment der Tragödie einen inhärenten Widerspruch annehmen kann, der zu unlösbaren Konflikten führt, dann ist die Moderne selbst tragisch. Sie ist zum Drama der spätkapitalistischen Welt geworden, in der die Konstruktion von Ordnung das Risiko eingeht, auf Chaos zu basieren, in der das Beharren auf Freiheit nur auf Kosten von Opfern möglich ist, in der Werte verkündet werden, die nie verwirklicht werden können, und in der die Selbstverwirklichung und die Selbstentfremdung dicht beieinander liegen. Nichts scheint weniger anfällig für ein tragisches Szenario als eine Gesellschaft von Individuen – und doch liegt darin ein tragisches Dilemma begründet: Die Freiheit des einen wird immer die eines anderen beschränken. Und der Traum der Freiheit kann schnell zum Alptraum werden und die selbstbewusste Feststellung „Ich begründe jeden Wert in mir selbst“ zum panischen Schrei: „Ich bin allein in diesem Universum.“

Für Eagleton ist die kapitalistische Moderne der Sturz eines tragischen Helden. Sie stellt im klassischen Sinne ein tragisches Dilemma dar, weil die Ermöglichung der Befreiung menschlicher Energien zugleich deren Beschränkung miteinschließt. Sie ist die Gleichzeitigkeit von Kreativität und Zerstörung, und der Gewährsmann, den Eagleton hier ins Feld führt, ist natürlich Freud.

In „Das Unbehagen der Kultur“ erklärt Freud die Entstehung von Kultur aus dem tragischen Konflikt zwischen dem Todestrieb, Thanatos, und Eros, dem Wunsch, zu erschaffen und zu gedeihen. Bei Freud liegt die Tragik in dem Umstand, dass das Zustandekommen von Kultur auf just jene zerstörerischen Kräfte angewiesen ist, die es beabsichtigt, zu transzendieren.

Gibt es Hoffnung? Eagleton wäre kein Marxist, wenn er nicht glauben würde, dass sich die Dinge zum Besseren ändern können. Am Schluss seines außergewöhnlichen und schwierigen Buches unternimmt er jedoch etwas Merkwürdiges. Er kehrt ganz an den Ursprung der Tragödie zurück – zum Kultopfer, das der Tragödie (griech. „Bocksgesang“) ihren Namen gegeben hat, und versucht, den Begriff des Opfers als vitale Kategorie für den Diskurs der Linken zu entdecken. Nicht immer kann man ihm in den metaphysischen Nebel, in dem er nun verschwindet, folgen. „Bevor politischer Wandel stattfinden kann, müssen wir uns unserer Identitäten entledigen … “ Das wäre in der Tat eine enorme Herausforderung an unsere Kultur des radikalen Individualismus. Und was wären wir dann? Asketen, die inmitten der Tragödie unserer modernen Welt in süßer Agonie die Sünden unserer globalisierten Welt büßen? Meint Eagleton das ernst?

Es ist der Begriff des Pharmakos, der Eagletons Vorstellung vom „Opfer“ Kontur gibt. Die Figur des Pharmakos entstammt der griechischen Antike und bezeichnet den Sündenbock, auf den die Fehlhandlungen der Gesellschaft projiziert wurden und der als Opfertier geschlachtet wurde. Er symbolisiert Schmutz, Deformiertheit, Wahnsinn und Verbrechen – mithin die soziale Ordnung in ihrem Versagen. Vor die Tore der Stadt gejagt, von der Gemeinschaft ausgeschlossen, bemitleidet und gehasst, verachtet und geächtet, markiert der Pharmakos einen herausgehoben Punkt innerhalb der gegebenen Ordnung, der – und das ist für Eagleton der entscheidende Punkt – die Notwendigkeit symbolisiert, das Schlechte zu zerbrechen, um etwas Besseres beginnen zu können.

Das ist es, was Eagleton mit dem Begriff des rituellen Opfers meint und was ihn daran so fasziniert: der Pharmakos als Abstraktion des gewaltsamen Übergangs von einem Zustand in einen anderen, besseren – mit anderen Worten: als Verkörperung der Idee der Revolution. „Die Struktur einer Welt, die zunehmend von der Gier transnationaler Gesellschaften regiert wird, muss gebrochen werden, um repariert werden zu können. Das ist die Lehre des Pharmakos, und das ist auch das Bekenntnis der politischen Revolution.“

Man kann gelegentlich über Eagletons teleologische Spekulationen Befremden äußern, und man kann Zweifel darüber anmelden, ob sich die Zumutungen einer globalisierten und hyperkomplexen Welt dialektisch werden auflösen lassen. Und dann muss man sich beunruhigt fragen, ob die „Tragödien“ der modernen Welt nicht vielleicht das Wüten von Kontingenz und mithin „Katastrophen“ sind. Aber man wird nicht umhin kommen, festzustellen, dass die intellektuelle Linke seit langem keinen derart radikalen, anspruchsvollen und unbequemen Standpunkt bezogen hat.