Schleifende Nadeln auf Azetat

Die zweite Aura: Die Donaueschinger Tage für Neue Musik standen diesmal auch im Zeichen des Turntablism

Komponisten des 20. Jahrhunderts haben noch so ziemlich jedes Musikinstrument demontiert und auf seine Eigentlichkeit hin überprüft. Der Plattenspieler war davon lange ausgenommen. Mit seinem Stück „Phonoautograph“, das am Wochenende bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt wurde, konnte Alan Hilario diese Lücke im ästhetischen Wissen jetzt schließen. In dem Gesangsstück führt der 1967 geborene Komponist mit dem Zusatz von Posaune, simplem Schlagwerk und vier Schallplattenspielern die musikalisch-technischen Figuren des Grammofons kompositorisch aus. Er mischt zerreißendes Papier mit statischem Knistern, den Sprung einer Platte mit kehligen Impulsen. Dann wieder behaupten sich die ausladenden Glissandi der Sänger vor den schroffen, technoiden Klängen einer lädierten Marschmusik, die von einer Platte extrahiert und elektronisch manipuliert wurde und die sich schließlich zwischen den Rillen verliert.

Nun trugen die diesjährigen Donaueschinger Musiktage nicht das Motto „Turntablism“ oder „Donau-Rave“. Aber es verwies doch eine ganze Reihe von Stücken auf Eingriffe in die Substanz der Musik und auf musikalische Figuren, die wir dem Plattenspieler verdanken.

Ein zweites Beispiel: Bernhard Langs „Differenz/Wiederholung 7“ für großes Orchester und Loop-Generator, eine Art virtueller Plattenspieler, stellt der Behauptung, das Kunstwerk gebe im Zuge seiner technischen Reproduktion seine Aura preis, eine andere, zweite Aura entgegen. Die konventionell gehaltene Orchesterpartie selbst zehrte stark von den blumigen Farben des frühen 20. Jahrhunderts. Das Orchester wird allerdings beständig von Lautsprechermusiken unterbrochen, das eben Gespielte dann zu einem grob geschnittenen Loop verschlauft. Zunächst notiert man beckmessernd, der Komponist habe sein Titelthema „Differenz und Wiederholung“, das ja im Übrigen ein Thema jeder Musik ist, völlig verfehlt. Im Laufe des Stückes wird man jedoch gewahr, dass der Loop-Generator den Orchesterklang mit seiner topfigen Lo-Fi-Qualität nicht unbeholfen verstümmelt, sondern ihn sich stattdessen zu Eigen macht. Dass einem aus dem brutalen Rattern der Wiederholung akustische Metaphern des Scheiterns und der Hoffnungslosigkeit entgegenschallen.

Die Werke von Hilario und Lang, welche die Ästhetik mechanisch kreisender Schallerzeugung als kompositorisches Problem aufgegriffen hatten, wurden von einem Konzert aus dem Bereich der avancierten Electronika flankiert. Die New Yorker Klangkünstlerin Marina Rosenfeld, die gemeinsam mit der Laptop-Musikerin Ikue Mori zu hören war, arbeitet mit klassischen DJ-Techniken, mit zwei Plattenspielern und einem Mischpult. Nur verwendet sie kein fremdes Vinyl: Auf dem Teller liegen selbst gepresste Azetatplatten, kurzlebige Unikate, die in erster Linie knochentrockene Geräusche enthalten. Und sie ist auch nicht um einen besonders slicken Set bemüht, sondern vermeidet Kontinuität. In offensiver Verweigerung werden die Nadeln zwar keineswegs poesielos, aber doch ein wenig ungehalten – und vor allem geräuschvoll – auf die Platten fallen gelassen und das Schleifen der Nadel übers Azetat in seiner brutalen Schärfe ausgekostet.

Schmerzhafte Momente wie diese gehörten zu den Höhepunkten der diesjährigen Donaueschinger Musiktage, von denen es allerdings nur wenige gab. Das renommierte Festival, das sonst vor allem von seinen Orchester-Uraufführungen lebt, hatte sich diesmal der zeitgenössischen Vokalpraxis verschrieben. Eingeladen wurde eine ganze Reihe von Künstlern, deren Narzissmus und Exhibitionismus keine Grenzen kannte. Einige waren der Meinung, sie einige Minuten völlig teilnahmslos ein- und ausatmen zu hören, müsse schon allerhöchstes Interesse erregen. Andere winselten auf einer pittoresk ausgestatteten Bühne derart überzogen, dass man meinen konnte, jemand schlage hier aus seinen psychischen Traumata Kapital. Zu den wenigen überzeugenden Auftritten gehörte jener der australischen Performancekünstlerin Amanda Stewart, der es gelang, das Publikum mit kämpferisch feministischer Pose, einer Hand voll Mikrofonen und einem rappelvollen Tonband zehn Minuten lang musikalisch ins Kreuzfeuer zu nehmen.

Nach massiver Kritik am Festival hat Donaueschingen sich in diesem Jahr selbst zur Disposition gestellt. Man versammelte greise und vor Affirmationsbereitschaft nur so strotzende Herren zu einer Podiumsdiskussion; der ohnehin kaum zu erwartende Impuls blieb also aus.

Ein Teil des Dilemmas dürfte es sein, dass Donaueschingen ein wertkonservatives Publikum bedient. Progressive Künstler wie Rosenfeld und Mori werden darum regelmäßig ausgebuht. Solange sich aber daran nichts ändert, muss man befürchten, dass Donaueschingen demnächst – und gemeinsam mit der hier kultivierten Gattung des behäbigen Orchesterstückes – ausstirbt.

BJÖRN GOTTSTEIN