Sieben Stunden Weg für Hassan

aus Eres SUSANNE KNAUL

Aus der Kontrollstation für VIPs am Grenzübergang Eres dröhnt laute Musik. Der Soldat hinter dem Schalter zuckt mit Schultern und Kopf im Rhythmus eines Songs der Band Nickelback, während er die Daten aus meinem Pass in seinen Computer eingibt. Zehn junge Israelis bewachen in dieser noch immer recht milden Herbstnacht die Grenze zwischen Israel und dem autonomen Gaza-Streifen. Es ist kurz nach Mitternacht, sie sitzen vor weit geöffneten Türen auf der Treppe und rauchen oder legen sich so bequem wie möglich quer auf die Wartebänke ihres Postenhauses.

VIPs, das sind in diesem Fall Ausländer oder Palästinenser mit Sondergenehmigung. Israelis dürfen, mit Ausnahme von Journalisten, den Kontrollpunkt nicht passieren. Der palästinensische Normalbürger muss hintenrum: durch die Gänge zwischen hohen Mauern, wo er an mehreren Sperren pedantische Überprüfungen seiner Papiere über sich ergehen lässt. Wer von den VIPs ein palästinensisches oder ein Diplomatenkennzeichen an seinem Wagen hat, kann die Grenze fahrend überqueren. Alle anderen gehen zu Fuß an der Mauer entlang den verbleibenden Kilometer zum Autonomiegebiet. Rechts liegt ein Industriegebiet, wo einige tausend Palästinenser auch in Krisenzeiten, in denen die Grenze komplett geschlossen ist, in israelischen Produktionsstätten arbeiten.

3.000 Männer warten schon

Den Gang entlang wird mit jedem Schritt die Musik der jungen Soldaten leiser und der Schatten länger, den der eigene Körper im Licht der israelischen Scheinwerfer auf die Straße wirft. Langsam werden leise Männerstimmen und Gemurmel hörbar. In dem provisorischen Kontrollpunkt der Palästinenser notiert ein Wachposten meinen Namen in ein Schulheft. Sein Kollege fragt nach dem Grund der Einreise und begleitet mich hinter die Mauer, wo schon rund 3.000 Männer auf die Öffnung des Übergangs warten. Bis dahin sind es noch drei Stunden.

Ein etwa zehn Jahre alter Junge läuft mit seiner riesigen Teekanne durch den langen, spärlich beleuchteten Gang, in dem Händler ihre Waren anbieten: frisches Fladenbrot, Falaffel und Kuchen, Obst und Gemüse, Joghurt, sogar Hüte und Sonnenbrillen. Markt für die zahlungsfähigen Kunden.

Rund 8.000 Männer und 250 Frauen passieren Tag für Tag die Grenze nach Israel, weil es dort gibt, woran es im Autonomiegebiet mangelt: Arbeitsplätze. Hassan Abed-Rabbo ist einer von ihnen. Vierzig Jahre alt, Vater von zehn Kindern. Er ist sonnengegerbt, hager und macht trotz der einfachen Kleidung, die er trägt, einen gepflegten Eindruck. Alle, die einen Job in Israel haben, genießen einen relativen Wohlstand. Aber Hassan Abed-Rabbo hat 4.000 Dollar Schulden.

Fast zwei Jahre lang war die Grenze geschlossen. Die Leute schlugen sich durch; zuerst mit Erspartem, mit dem Verkauf von Schmuck, dann mit Anschreiben im Lebensmittelladen, Geldanleihen bei Verwandten im Ausland und bei den Banken. Wer noch immer keine Arbeit hat, ist auf die Unterstützung des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) angewiesen, das einmal im Monat Mehl, Reis, Zucker und Tee verteilt. Gemüse und Fleisch stehen für die Menschen in Gaza schon lange nicht mehr auf dem Speiseplan.

„Wer einmal mit dem Gesetz in Konflikt gerät, hat keine Chance auf eine Einreisegenehmigung“, erzählt Hassan. Der Name landet unverzüglich auf den Listen des israelischen Militärs. „Für ihn und für seine ganze Familie“ bleibt der Weg nach Israel dann versperrt.

Besser als andere sind die über dreißigjährigen Familienväter dran, die einen Arbeitgeber haben, der sie aus friedlicheren Zeiten kennt und bereit ist, sie jetzt wieder anzustellen. Hassan setzt sich auf eine Holzbank vor einem von Essensresten verklebten Tisch. Die Reihe der wartenden Männer wird immer länger. Hassan lacht auf die Frage, ob Nummern verteilt werden, um Gedränge zu verhindern, wenn die Eisentore aufgeschoben werden: „Das ist nicht nötig. Jeder weiß, wann er an der Reihe ist.“

15 Minuten für die Kinder

Die Männer lagern auf dem Boden, den Kopf auf ihre Schuhe gebettet. Manche haben sich Pappen mitgebracht, auf die sie sich legen. Hassan ist erschöpft, seit vier Tagen hat er kaum geschlafen. Müde stützt er sein Kinn auf die Hand. Die andere spielt mit einer Zigarettenschachtel auf dem Tisch. Sein Tag beginnt zwischen 22 und 23 Uhr. Rund zwanzig Minuten sind es mit dem Sammeltaxi aus Gaza bis zum Kontrollpunkt Richtung Israel. Dort nimmt er seinen Platz in der Warteschlange ein. Um zwei Uhr morgens öffnen die palästinensischen Grenzposten das erste Eisentor. Eine Stunde später die Israelis. Zwischen fünf und sechs Uhr erreicht er seinen Arbeitsplatz, einen Bauplatz in Aschdod, Israel, nur dreißig Kilometer vom Stadtzentrum Gazas entfernt.

Hassans Aufenthaltsgenehmigung dort gilt bis 19 Uhr. „Wer öfter als einmal zu spät zurückkommt, riskiert seinen Passierschein und damit seinen Broterwerb.“ Manchmal seien die Soldaten freundlich und drückten ein Auge zu, „aber darauf ist kein Verlass“, meint Hassan. Er kommt in der Regel schon früher nach Hause. An guten Tagen ist er um halb sechs bei seiner Familie. Dann schnell waschen, essen und ein paar Stunden schlafen, bevor es um spätestens 23 Uhr wieder zur Grenze geht. „Ich sehe meine Kinder am Tag vielleicht 15 Minuten.“ Seine älteste Tochter studiert Englisch, die jüngste liegt noch in den Windeln. „Aber jetzt ist Schluss“, sagt Hassan geradeheraus. „Wir haben operiert. Es wird keine Kinder mehr geben.“ Bei ihm oder seiner Frau? „Nein, nein! Bei mir ist noch alles offen.“

Vor eineinhalb Jahren ist die Familie umgezogen. Raus aus der eigenen, kaum 700 Meter von einer jüdischen Siedlung entfernten Wohnung, wo „ständig geschossen wurde“. Jetzt muss Hassan Miete zahlen: 400 Schekel, gut 80 Euro im Monat für die drei Schlaf- und ein Wohnzimmer in Gaza. Mit regelmäßiger Arbeit ist das bezahlbar. Die israelischen Löhne sind gut: Hassan bringt täglich immerhin 280 Schekel, etwa 55 Euro, nach Hause.

Ein kleines Stück vom Wohlstand jenseits der Grenze abkriegen wollen die Männer. Natürlich gibt es auch in Israel Armut und Mangel, wenn auch in geringerem Maße als bei den Palästinensern. „Sie haben ein Haus, Kinder, einen Hund“, versuchte kürzlich ein an der Grenze wartender Palästinenser einem israelischen Fernsehjournalisten zu verdeutlichen. „Sie führen den Hund aus, damit er an einen Baum geht und Pippi machen kann. Wo zum Teufel, kann ich hier Pippi machen?“ Tatsächlich gibt es im gesamten Wartebereich am Grenzübergang keine einzige Toilette.

70 Schekel weniger

Dennoch, nicht Sozialneid ist die Ursache für die unter den Männern herrschende Frustration. Vor allem ist es die erfahrene konkrete Willkür auf ihrem Weg zum Arbeitsplatz und der nicht enden wollende politisch-militärische Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. „Wir wollen dieses Blutvergießen nicht“, sagt Hassan. Der Krieg müsse ein Ende haben. Einfach ein normales Leben leben – das ist der Wunsch dieser Männer, die die Israelis von ihrer anderen, besseren Seite kennen gelernt haben, nicht nur als Soldaten und Siedler. Erst die alltägliche Erniedrigung, die sie auf ihrem Weg zur Arbeit nach Israel erfahren, hat ihre Meinung verändert. „Die Israelis hassen uns“, sagt Hassan und berichtet von einem Freund, der offenbar grundlos mit einem Messer angegriffen wurde und ins Krankenhaus musste. Wenn ihn jemand in Israel fragt, wo er herkommt, antwortet Hassan manchmal aus Vorsicht, er sei aus Beerschewa oder Rahat – zwei Beduinendörfern in Israel.

Hassans Freund bringt zwei mit Gemüse und Falaffel gefüllte Fladenbrote, die in Zellophan eingewickelt sind. „Das ist unser Frühstück. Mehr dürfen wir nicht mitnehmen.“ Bis vor kurzem sei selbst das nicht möglich gewesen. „Bedingung ist, dass die Brote in durchsichtigen Plastiktüten verpackt sind“, erklärt Hassan und lacht über diese unsinnige Sicherheitsmaßnahme der Israelis. Dass die Palästinenser kein Gepäck mehr mitnehmen dürfen, bedeute große Einnahmeeinbußen, berichtet Hassans Freund Abed und erklärt: „Früher haben wir Kleidungsstücke, die die Israelis weggeworfen haben, aus den Containern gesammelt, gewaschen und in Gaza verkauft.“ Auf diese Art habe er täglich bis zu 70 Schekel, etwa 13 Euro, dazuverdient. „Was glaubst du, wo ich die Sachen herhabe, die ich trage?“, fragt er und fasst sich an sein Sweatshirt, an die Hosen und deutet auf die Schuhe. „Aus dem israelischen Müll.“ Er greift Hassan ans Hemd: „Das hast du doch auch gefunden.“ Hassan leugnet: „Nein, das ist gekauft.“ Abed will es nicht glauben, nennt ihn einen „Angeber“.

Eine Gruppe tief verschleierter Frauen geht an der Warteschlange der Männer vorbei. Es ist kurz vor zwei, in wenigen Minuten öffnen die palästinensischen Grenzpolizisten ihre Schalter. Die Frauen haben etwas abseits von den Männern gewartet und drängen rasch durch die Reihen der Schlafenden.

„Haben Sie noch weitere Fragen?“, sagt der Polizist, der misstrauisch das auf hebräisch geführte Gespräch beobachtet und offenbar nichts davon verstanden hat. Meine Bitte, zu den Kontrollpunkten vorgelassen zu werden, lehnt er ab. Die Sammeltaxis, mit denen die Palästinenser den Übergang erreichen, kommen nun im Sekundentakt an. Sie bringen die Leute, die im südlichen Gaza-Streifen wohnen und deren Reise bis zur Grenze mehrere Stunden dauert. Denn auch innerhalb des Gebiets sind Straßensperren und Kontrollpunkte des Militärs zu überwinden.

24 Stunden offen für VIPs

Auf israelischer Seite gibt ein Armeekommandant seinen Soldaten offenbar letzte Anweisungen vor der Grenzöffnung. Als er mich sieht, rennt er nervös auf mich zu. Selbst der vom staatlichen israelischen Pressebüro ausgestellte Ausweis beruhigt ihn nicht. Über eine Stunde dauert es, bis geklärt ist, warum ich mitten in der Nacht am Kontrollpunkt bin, der doch prinzipiell 24 Stunden am Tag für die VIPs geöffnet ist.

Als das endlich geklärt und ich wieder draußen bin, sind auch die ersten Palästinenser durch ihre Kontrollen durch und reihen sich schon in eine neue Warteschlange ein: vor dem Toilettenhäuschen.