peter unfried über Charts
: Wann verlor das große Ziel den Sinn?

Haben wir ihnen viel zu wenig Respekt entgegengebracht? Zum stillen Gedenken an Hartmut Engler und Pur

Seit ein paar Tagen muss ich daran denken, wie vor vielen Jahren mal mein Telefon klingelte.

Äh, ja?

Ob ich ich sei.

War ich.

Er sei Hartmut.

Hartmut????

Kannte natürlich keinen Hartmut (wer kannte schon freiwillig einen Hartmut?). Mal abgesehen von einem, der eigentlich nicht Hartmut hieß, aber den Namen absurderweise immer benutzte, wenn er Frauen aufreißen wollte. (Das nannte man in diesen herrlich verrückten Achtzigern in bestimmten zurückgebliebenen Kreisen leider so. Eigentlich: One-Night-Stand.).

Dieser Hartmut: Ob ich einen bestimmten Artikel geschrieben hätte? Über die Band Pur?

Ich: Natürlich.

Er wolle mich warnen.

Hartmut klang ein bisschen gereizt.

Es stellte sich heraus, dass Hartmut sich Sorgen um meine Gesundheit machte. Deshalb wolle er mir einen guten Rat geben.

Ich: Welchen denn?

Hartmut: Ich solle mich nie, nie, niemals mehr auf einem Pur-Konzert sehen lassen, ansonsten könne er „für nichts garantieren“. Speziell nicht, wenn er mich im Publikum entdecke und daraufhin leider den paar tausend anderen sagen müsse, dass ich auch da sei.

*

Tja. Das war mein letzter direkter Kontakt zu Hartmut Engler, dem Sänger, Texter und Chef von Pur. Wir hatten ja beide noch anderes zu tun und beendeten das Gespräch. (Er musste wahrscheinlich noch jede Menge andere Kritiker anrufen.)

Ich aber legte danach einen Pur-Song auf und summte noch ein bisschen mit:

„Neue Brücken, neue Wege

aufeinander zuzugeh’n,

ganz behutsam, voller

Achtung,

miteinander umzugeh’n.“

Danach vergaß ich die Sache bzw. natürlich nicht.

*

Und nun stellt sich heraus, dass Engler offenbar immer noch lebt, wenn auch in Bietigheim. Schlimmer: Wegen einer privaten Angelegenheit ist er wieder täglich in der Zeitung. (Sagt man ja so. Eigentlich: Bild). Und im Fernsehen (Eigentlich: „TV Total“).

Okay, Pur hat es natürlich nicht mehr in das neue Jahrhundert geschafft. So ist heute vielleicht die letzte Gelegenheit, unser Verhältnis zu Pur noch einmal zu überdenken – und sich ggf. bei Engler zu entschuldigen, bei dem die ganzen bösen Worte ja möglicherweise bleibende Narben hinterlassen haben.

Pur ist und bleibt die kommerziell erfolgreichste gesamtdeutsche Popband des letzten Jahrzehnts (weit vor Grönemeyer, Westernhagen, Die Toten Hosen, Die Ärzte.) Solide Musiker, wollten immer „wie Chingachgook für das Gute stehen“. Natürlich letztlich eine Band für Leute, die sich nicht für Musik interessieren, aber trotzdem: Durfte sich deshalb alles, was (noch) keinen Bausparvertrag oder lächerlich gefärbte Haarsträhnen hatte, mit Pur und speziell Engler den Arsch abwischen?

Warum, müssen wir uns mal wieder fragen: warum dieser Hass? Nur weil Pur aus einer guten Melodie und tausend schlechten Texten Millionen machte? Das haben andere auch geschafft.

Rückblickend betrachtet, muss man fragen: Vielleicht weil Pur und sein Publikum der kleinste gemeinsame Nenner war, durch den eine Teilgeneration sich abgrenzen konnte (Stufe 2: FC Bayern, Stufe 3: Joseph Fischer): Da war jemand noch unpolitischer, ahnungsloser, einfältiger, um es mit einem Wort zu sagen: noch grauenhafter als man selbst.

Aah, tat das gut.

Aber: War Engler in Wahrheit die dunkle Seite unserer eigenen, vordergründig korrekten Existenz? Vor der man zu Recht Angst hatte, weil sie u. a. in uns hervorbrachte: die furchtbare deutsche Sekundärtugend namens Sentimentalität, die Sehnsucht nach der Provinz als politische und kulturelle Identität (vgl. Seeßlen) und letztlich nach dem Privaten und Banalen?

*

Ich machte gestern eine Schnellumfrage unter ganz normalen Ströbele-Wählern. Habt ihr nicht auch das Radio lauter gedreht, wenn damals „Lena“ lief? Natürlich nur, wenn keiner dabei war? Habt ihr nicht auch mitgesungen: „Wo sind all die Indianer hin, wann verlor das große Ziel den Sinn?“

Alle: Nee. Niemals.

Ich: Ihr lügt doch.

Letztlich ist niemand grauenhafter als man selbst.

*

Aber man muss es ihm zugestehen: Hartmut Engler war nahe dran.

Fragen zu den Charts, Hartmut?kolumne@taz.de