Dieses blutige Land in unserem Innern

Die DDR war nie sein Gegenstand: Wolfgang Hilbig schreibt in seinen Romanen und Erzählungen über die Einsamkeit und Entwurzelung der Menschen, über mythische Unterwelten, Keller und Katakomben. Heute wird der gelernte Heizer mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Ein Porträt

„Die DDR kann man nur noch als erfundenes Gebiet begreifen“

von SUSANNE MESSMER

Beim ersten Telefonat schlägt Wolfgang Hilbig noch „seine Bude“ als Treffpunkt vor. „Hier sieht es aus wie im Eisenbahnwaggon“, warnt er noch, „aber wenn es Ihnen nichts ausmacht …“ Zwei Tage darauf ruft er noch einmal an, er hat es sich anders überlegt und bittet darum, ihn doch nur abzuholen aus seiner Wohnung in Prenzlauer Berg und gemeinsam in die Kneipe zu gehen.

Als es soweit ist, scheint es plötzlich besser so: wie er im Türrahmen seiner Haustür steht, langsam den Bürgersteig hinunterwackelt und sich bereitwillig fotografieren lässt, dieser kleine, untersetzte Mann mit dem unglaublichen Gesicht und dem überdeutlichen sächsischen Idiom, dem man alles, was ihm passiert ist, was er denkt und was er fühlt, anzusehen glaubt, der einem nahe genug geht, auch ohne Bude. Einige Passanten drehen sich nach ihm um, auch, wenn sie gar nicht alle wissen können, dass er gerade als einer der wichtigsten Autoren der Gegenwart gefeiert wird – dass er heute mit dem renommiertesten Literaturpreis ausgezeichnet wird, den man hierzulande bekommen kann, dem Georg-Büchner-Preis.

Will man Wolfgang Hilbig erklären, dann fängt man am besten dort an, wo er 1941 geboren wurde, in Meuselwitz, einem kleinen Industriestädtchen im Braunkohlerevier südlich von Leipzig, einer vergifteten, apokalyptischen Landschaft voller Müllhalden, Dampfrohre und Ruß, in der Hilbig bei seinem Großvater, einem Bergarbeiter und Analphabeten, aufwuchs und nach acht Jahren Grundschule als Bohrwerkdreher, Werkzeugmacher und Heizer arbeitete. Meuselwitz, wo es „überhaupt keine Industrie mehr gibt, nur noch einen Verband, der die Arbeitslosen verwaltet, platt gemachte Betriebe und leere Sandflächen“, wie Hilbig später in der Kneipe erzählt. Dieses Meuselwitz war eines der wichtigsten Ausgangspunkte. Von hier aus begann er seine Suche nach dem, was sich unter den Oberflächen abspielt. Von hier aus beschrieb er Verwesung, Chaos und Untergang, den Leichengeruch alter Abdeckereien, das aufgerissene, blutige Land, und hier entdeckte er sein Interesse für die Außenseiter, die Ungelernten, die Heizer, Müllmänner, Aushilfskellner und Totengräber.

Meuselwitz wurde für Hilbig zum Beleg für einen Gedanken Italo Calvinos: Je mehr Licht und Wohlstand es in unseren Häusern gibt, desto mehr Gespenster kriechen aus dem Mauerwerk. Die Träume von Fortschritt und Rationalität wurden gerade und auch in der DDR von Albträumen heimgesucht: Von Anfang an war es der Reflex von Wolfgang Hilbigs Texten, dass sie aufdecken, aufklären, enthüllen wollten, dass sie der Wirklichkeit, wie sie scheint, misstrauten. Und zu dieser Zeit schrieb er Geschichten, die beinahe stanken, die einen ansprangen wie Lärm, so körperlich, so sinnlich waren sie – trotz aller Schwere und Düsternis.

Als Wolfgang Hilbig 1965 bei einem Zirkel schreibender Arbeiter mitmachte und bei Lyrikseminaren der DDR-Arbeiterfestspiele, war ziemlich klar, dass es bald zu Unstimmigkeiten kommen würde. „Einmal habe ich die DDR-Nationalhymne parodiert, das hieß dann bei mir: ‚Auferstanden aus Urinen und dem Wohlstand zugewandt.‘ Da war ich dann von Verhaftung bedroht“, erzählt er heute lauthals lachend beim zweiten Glas Weißwein.

Hilbig machte munter weiter und schrieb tapfer vorbei am Sozialistischen Realismus und an der Ideologie von der sozialistischen Persönlichkeit. „Ich gehörte nicht wie etwa Christa Wolf zur Aufbaugeneration, der man zugestehen muss, dass sie sich für die DDR einsetzten. Für mich bedeutete die DDR nur Fahnenappelle im Lehrlingskombinat.“

Schon Mitte der Fünfzigerjahre hatte die SED damit begonnen, Arbeiter aufzufordern, Brigadetagebücher zu schreiben – „Greif zur Feder, Kumpel!“ – während Schriftsteller in die Produktionsstätten gehen sollten, um den sozialistischen Alltag künstlerisch zu gestalten. Das Unternehmen scheiterte. Der „neue Charakter der Arbeit“ hieß nach wie vor Fließband und keine Mitbestimmung, und die Texte legten alles andere frei als „neue kulturschöpferische Potenzen der Arbeiterklasse“, wie es die Parteibeschlüsse wollten.

Und Wolfgang Hilbig? Wolfgang Hilbig war nur Heizer, eine Art Hilfsdiener, der nie in die Kaste des Proletariats aufsteigen konnte. „Der Zirkel schreibender Arbeiter war ein Witz“, sagt er, „ich war da der Einzige, der schrieb. Sonst gab es dort nur Hausfrauen und Studenten, das Konzept war papieren, genauso wie der ganze Bitterfelder Weg. Die können in der DDR keine ehrlich schreibenden Arbeiter gewollt haben, denn die kannten sich ja aus. Die wussten ja, dass man jede Schraube aus dem Sand ausbuddeln musste, die man brauchte.“

Während Hilbig auf Außenmontage durch die DDR reiste – als Tiefbauarbeiter, Hilfsschlosser, Monteur und Abräumer in einer Ausflugsgaststätte – und auch nachdem er nach Meuselwitz ins Haus seiner Mutter und in den Beruf des Heizers zurückgekehrt war, schrieb er weiter, wenn auch für die Schublade. Immer mal wieder bot er DDR-Verlagen Manuskripte an – erfolglos bis in die Siebzigerjahre hinein. „Das war natürlich ein Problem, so einfach vor mich hin zu schreiben und nie überprüft werden zu können“, erklärt er seine Außenseiterposition, die ihn bis heute beschäftigt. Hilbig ist ein Autodidakt der Literatur, er las die klassische Moderne, die er in der DDR bekommen konnte, nicht aber die einheimische Prosa, die ihn einfach nicht interessierte.

Erst 1989 konnten seine Leser in einem groß angelegten Prosatext, seinem autobiografischen Romandebüt „Eine Übertragung“ mehr erfahren. Über die Schizophrenie, arbeiten zu gehen und abends und am Wochenende zu schreiben, „im allerfinstersten Winkel der Küche“ oder „auf der Bettkante“. Und über den Widerspruch, dass ein schreibender Arbeiter kein Arbeiter mehr ist, aber auch noch kein Intellektueller. „Im Kesselhaus zu sitzen und Proust zu lesen – das grenzt an Absurdität“, sagt er heute dazu und zündet sich seine siebte Zigarette an.

Seinen literarischen Durchbruch allerdings hatte Hilbig schon früher, 1978 nämlich, als erstmals Karl Corino im Hessischen Rundfunk Gedichte von ihm vorstellte. Der Fischer Verlag wurde auf ihn aufmerksam. Von da an kam Wolfgang Hilbig im Westen immer besser an, während er in der DDR bis auf eine Ausnahme nicht gedruckt und kaum wahrgenommen wurde. Da war endlich einer, eine Art Charles Bukowski des Ostens, ein Mann mit Kultpotenzial, der klar Stellung bezog im westdeutschen, oft blutleer und satt wirkenden Literaturbetrieb. Das schlug ein, sowohl bei den Linken, die sich endlich von der Vorstellung verabschiedeten, die DDR sei das gemütlichere Land, als auch bei den Konservativen, die sich ihren Kalten Krieg bestätigen lassen wollten. 1993 erschien Wolfgang Hilbigs zweiter Roman „Ich“. Der erfolglose Schriftsteller M. W. arbeitet für die Staatssicherheit und bespitzelt Autoren aus der Prenzlauer Berg Connection, jener Kreise um Sascha Anderson und andere. „Ich“ geriet Hilbig zu einem beeindruckend morbiden Gesellschaftsroman über den Niedergang der DDR, und weniger als die oft fehlerhafte Rekonstruktion des Umfelds der Stasi war es die Isolierung, Einsamkeit und Entwurzelung, die Sehnsucht eines Autors, irgendwohin zu gehören, die faszinierte.

Wie bei einer Erzählung Franz Kafkas wird in „Ich“ eine Welt aus Dämmerlicht und Nebel und eine unerreichbare, alles kontrollierende Macht beschrieben, die den Einzelnen erstickt. M. W. taumelt in mythischen Unterwelten, in Kellern und Katakomben, umher, er versteckt sich in der Finsternis und kann sich nur noch am Geruch der Fäkalien orientieren. Das, was oben, im Tageslicht, geschieht, interessiert ihn und mit ihm seinen Erfinder, Wolfgang Hilbig, immer weniger.

Als die Kulturbehörden der DDR Wolfgang Hilbig die Reiseerlaubnis erteilten, 1985 nämlich, da war der Arbeiter-und-Bauern-Staat bereits vollauf damit beschäftigt, ums Überleben zu kämpfen. Hilbig erhielt ein Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds und zog zunächst nach Hanau, überschritt das Jahresvisum, ließ es sich verlängern, blieb aber bis lange nach der Wende in Westdeutschland.

Diese Zeit zwischen den Stühlen, der Orientierungs- und Bodenlosigkeit hat er später in seinem dritten und bislang letzten Roman „Das Provisorium“ beschrieben, seinem autobiografischsten Buch bis jetzt.

„Im Kesselhaus zu sitzen und Proust zu lesen – das grenzt an Absurdität“

Sein Held und Alter Ego, der Schriftsteller C., findet im Westen nicht die Identität, die er auch im Osten nie hatte, sondern versinkt restlos in Alkohol und Schreibhemmungen. Nirgends richtete er sich ein. Er irrt durch die Städte, verfährt sich mit dem Bus, verläuft sich im Bahnhofsviertel, und die Sprache gerät immer mehr zu einer Seefahrt im Sturm, zu einer schwindlig machenden Selbsterkundung, selbstreflexiv, voller Traumsequenzen und Halluzinationen, die kaum mehr von dem zu unterscheiden ist, was die Wirklichkeit – mutmaßlich, möglicherweise, vielleicht – sein könnte.

Neben diesem packenden Kreiseln des Textes wird aber in „Provisorium“ auch deutlich, dass Wolfgang Hilbig die Wirklichkeit der anderen Seite, die wirkliche Wirklichkeit jenseits von Ideologie, verloren gegangen ist. Seine Texte stinken nicht mehr, sie strengen in ihrer Brüchigkeit und übermäßigen, suchenden Beweglichkeit oft an und lassen plötzlich eine Handlung, einen Spannungsbogen vermissen, der einem bei Hilbig sonst nie fehlte. Hilbigs Helden fühlen sich allzu fremd in der ach so bösen Nützlichkeit des ach so kalten Merkantilismus, der Macht der Banken und der Konsumherrlichkeiten, und die Beschreibung der glänzenden Oberflächen unserer Wohlstandsgesellschaft gerät oft zum Klischee.

Es mag etwas dran sein, dass sich Hilbig mit „Das Provisorium“ etwas vom Leib geschrieben, dass er Bekenntnisliteratur verfasst hat, eine Beichte. Andererseits: Hat es nicht eingeschlagen, dieses Image der Entwurzelung, das sonst vielleicht nur noch Autoren von Exil- und Migrantenliteratur so schick hinbekommen? Hat er sich darin nicht auf eine Art auch eingerichtet in dieser Zivilisationskritik, in dieser Abwehrhaltung?

Das ist der einzige Einwand, den man gegen Wolfgang Hilbig erheben kann. Über alles andere muss man sich mit dem Schriftsteller freuen, der seit 1994 wieder in Berlin lebt, „der einzigen Stadt, die wiedervereinigt ist“. Wie er sich über die Koffer voller Post freut, die er bekommt, seit bekannt wurde, dass er den Georg-Büchner-Preis bekommt. Und dass, obwohl er ja längst an die Preise gewöhnt sein müsste, so viele hat er gewonnen – den Ingeborg-Bachmann-Preis zum Beispiel, den Berliner, Brandenburger, Bremer Literaturpreis, Lessing-Preis des Freistaates Sachsen, Fontane-Preis der Berliner Akademie der Künste.

Man muss es einfach schön finden, wie erleichtert er sich zeigt, dass ihm die 40.000 Euro jetzt bis zur Rente reichen. Außerdem ist zu begrüßen, dass es nach dem Klassizisten Volker Braun nun endlich auch einmal einen der wenigen Vertreter der literarischen Moderne in der DDR erwischt hat, außer Fritz Rudolf Fries fällt einem da ja kaum noch einer ein.

Man will Wolfgang Hilbig direkt beruhigen, als er sagt, dass er Angst hat, er könnte sich wiederholen. Denn was wäre leichter aus der Welt zu räumen als der ranzige Einwand, es könnte ihm sein Gegenstand abhanden gekommen sein. Schließlich war die DDR, wie sie wirklich erschien, nie sein Gegenstand. Man kann sie heute, sagt er nach dem dritten und letzten Glas Weißwein, „nur noch als erfundenes Gebiet begreifen.“