Staatsstreich im Regen

Mit der Besetzung der Redaktion durch die Polizei begann heute vor 40 Jahren die „Spiegel“-Affäre. Sie beschleunigte den Untergang der Adenauerära und bescherte dem Magazin eine Neugeburt – und den Ruf als „Sturmgeschütz der Demokratie“

„Wenn wir unsjetzt nicht wehren,braut sichetwas zusammen“

von STEFFEN GRIMBERG

„Kriminaloberkommissar Karl Schütz trug gedecktes Zivil und festes Schuhwerk. Hinter ihm marschierten, in der Formation des ‚offenen Eberkeils‘, sieben Männer, die ihre Pistolen unsichtbar im Schulterhalfter tragen durften. […] Die Herren waren, am 26. Oktober 1962, im Dienst. Sie gingen ihrem Gewerbe nach – dem Schutz des deutschen Staates.“

Auch 40 Jahre danach ist die Spiegel-Affäre eben eine höchst lebendige Legende, vor allem im eigenen Blatt. Weil die Ausgabe 41/1962 gut zwei Wochen zuvor in einer Titelgeschichte über das Nato-Manöver „Fallex 62“ Einzelheiten über die mangelhafte Ausrüstung und Stärke der Bundeswehr sowie des „desaströsen Manöververlaufs“ veröffentlichte, witterten die Adenauer-Administration und vor allem der damalige Verteidiungsminister Franz Josef Strauß ihre Chance: „Es sollte der finale Schlag gegen ein kritisches und freches Blatt sein – und der war aus Sicht von Strauß und Adenauer hoch verdient“, schrieb der Spiegel diese Woche rückblickend. Der angebliche Verrat von Staatsgeheimnissen im „Fallex“-Artikel diente als Vorwand, um die Bundesanwaltschaft gegen das Magazin in Marsch zu setzen. Leiter der Aktion „in dieser regnerischen Freitagnacht“: Der spätere Generalbundesanwalt Siegfried Buback, damals bereits Erster Staatsanwalt der Karlsruher Bundesanwaltschaft. Der mit einfallende siebenköpfige „offene Eberkeil“ bestand aus Beamten der Einsatzgruppe Bonn, die zur Verstärkung später noch Hamburger Polizei anforderten.

Sie besetzen die Redaktion, gleichzeitig werden die Wohnungen von Spiegel-Redakteuren in Hamburg und Bonn durchsucht. Unter den Festgenommenen sind die Chefredakteure Johannes K. Engel und Claus Jacobi, auch Rudolf Augstein soll in Düsseldorf verhaftet worden sein – ein peinlicher Irrtum: Wer da den Beamten in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt aus einem Kaufhaus entgegenkommt, ist der Verlagsmanager des Düsseldorfer Spiegel-Büros, Erich Fischer. Wie der Medienforscher Lutz Hachmeister schreibt, hatte man den ehemaligen hohen Beamten des NS-Propagandaministeriums – Fischer war seit 1942 Chef der Abteilung „Deutsche Presse“ – mit dem Spiegel-Herausgeber verwechselt. Augstein stellt sich am Montag darauf den Behörden, er wird bis zum 7. Februar 1963 in Gefängnis sitzen.

Was die an jenem Herbsttag Nachtdienst schiebenden Staatshüter nicht ahnen können: Sie sorgen nicht nur für die bislang heftigste Erschütterung der langsam zu Ende gehenden ersten Bonner Republik. Sie liefern auch die Grundlage für den künftigen Erfolg des Spiegel – und das bis heute unangefochtene Image als „Sturmgeschütz der Demokratie“.

Die öffentliche Reaktion nach der Besetzungs- und Verhaftungsaktion war eindeutig und zeigte, wie sehr sich das „Raumschiff Bonn“ mit dem greisen Kanzler an der Spitze von der Stimmung im Land entfernt hatte. Noch herrschten zwar Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung, doch man hatte Adenauer allgemein satt. Die Kluft zwischen Alt und Neu manifestierte sich in der Gegenüberstellung des 86-Jährigen mit dem jungen Hoffnungsträger im US-Präsidentenamt, John F. Kennedy. In München haben kurz zuvor die Schwabinger Krawalle die „Keine Experimente!“-Fraktion der Adenauer-Anhänger verschreckt, an der Ludwig-Maximilians-Uni verhindern protestierende StudentInnen die Wiederanbringung des Horazspruches „Dulce et decorum est pro patria mori“ („Süß ist‘s und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben“).

Auf diese Stimmung trifft die Spiegel-Affäre, das staatsstreichmäßige Vorgehen von Strauß schürt Ängste: „Es ging um die Verteidigung der Grundrechte, nicht um den Spiegel“, erinnert sich taz-Redakteur Christian Semler, damals Referendar in der bayerischen Haupstadt. „Wenn wir uns jetzt nicht wehren, braut sich etwas zusammen“ – diese Stimmung setzte sich fort und verstärkte sich: Als bekannt wurde, dass Strauß persönlich die Verhaftung des im spanischen Torremolinos urlaubenden Autors des ‚Falex‘-Beitrags, Conrad Ahlers, mit Hilfe der francofaschistischen Guardia Civil angeordnet hatte. Als durchsickerte, dass der Verteidigungs- den von der FDP gestellten Justizminster Wolfgang Stammberger umgangen und damit de facto das Bundeskabinett ausgeschaltet hatte. – „Es war brandgefährlich“, so Semler, man befürchtete die „Beseitigung der demokratischen Grundrechte“.

Aus heutiger Sicht hatten die Protest eine Art „Vorläufercharakter“ für die Studentenbewegung. Und für den Spiegel einen unschätzbaren Wert: Wer sich in den kommenden Jahrzehnten mit der Geschichte des Magazins beschäftigte, landete stets im Jahr 1962. Die 16 davor liegenden Jahre seit der Gründung, die Frage nach dem „frühen Spiegel und seinem NS-Personal“ (Hachmeister-Aufsatz) wurden bis weit in die Neunzigerjahre hinein nicht gestellt. Und bis heute vom Magazin selbst – im Vergleich zur aktuellen, wie die „Forex“-Titelstrory über 17 Seiten laufende Geschichte zum 40. Jahrestag der Spiegel-Affäre – eher randständig behandelt.

Seinen Humor hatte der Spiegel dagegen schnell wieder gefunden: Augstein, Ahlers und weitere Redakteure sind noch in Haft, als das Blatt am 21. November 1962 folgenden Leserbrief aus Torremolinos druckt: „Trost für Herrn Ahlers. Hier nichts verpasst, regnet seit Tagen.“