In Freundschaft kampfbereit

Es ist vielleicht kein Zufall, dass Unselds Sohn Joachim ein Buch über Franz Kafka geschrieben hat

von JÜRGEN BUSCHE

Siegfried Unseld war ein empfindsamer Kraftmensch. Er konnte so unsagbar verwundet gucken, dass man sich eines bösen Wortes schon schämte, wenn man es einstweilen nur in Erwägung gezogen hatte, es im Gespräch mit ihm zu gebrauchen. Und wenn er zu sprechen begann, mit einem zunächst leisen, gebändigt klingenden Singsang, der sich unmerklich zur beschwörenden, schließlich das jeweilige Projekt rühmenden Suada erhob, dann war er schon wie ein Ozeandampfer vorbeigerauscht, und der kritische Geist, der sich für eine Begegnung gewappnet hatte, nahm sein Faltboot zusammen und suchte barfüßig durch die aufgeschäumten Wellen den Weg ans vertraute Ufer, um von dort weiterhin den Stern anzubeten, der über den Bücherfluten stand: Suhrkamp-Kultur.

So verspricht es mehr Wirklichkeitsnähe, wenn man sich nun, da der bedeutendste deutsche Verleger der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tot ist, sich die massige Gestalt des Mannes in Erinnerung zu rufen, die es ihm erlaubte, drohend und werbend gleich einschüchternd zu wirken. Es ist letztendlich nicht zu entscheiden, was für das jeweilige Gegenüber gefährlicher war, seine Kampfbereitschaft oder seine Freundschaft. Aus dem Feld geschlagen zu werden lässt immerhin mehr Zukunftsperspektive offen, als an einer übermächtigen Brust erdrückt zu werden. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Unselds Sohn Joachim ein Buch über Kafka schrieb. Vor wenigen Tagen wurde er, was den Suhrkamp Verlag anging, endgültig von seinem Vater aus dem Feld geschlagen. Der war jetzt – fünfzig Jahre nach seinem Eintritt in das Unternehmen – an der Spitze des Verlags wieder so allein, wie er es seit dem Tod des Gründers, seines Mentors Peter Suhrkamp, gewesen war. Mit 78 Jahren ist Siegfried Unseld jetzt in Frankfurt gestorben, nicht im Krankenhaus, wo er lange gelegen hatte, sondern in seinem Wohnhaus. Sein Tod berührt jeden in Deutschland, der über den Zusammenhang von Verlagsgeschäft, Buchhandel und „der geistigen Situation der Zeit“ (Karl Jaspers) Bescheid weiß. Für Frankfurt bedeutet er den Verlust einer Persönlichkeit, die es vermochte, der Stadt das Ansehen eines intellektuellen Gegenpols zu dem weiterhin aufschließenden Berlin zu bewahren.

Das freilich hätte man einst von dem ungehobelten Schwaben kaum erwartet, der mit einer Dissertation über Hermann Hesse in der Tasche und einer Empfehlung des verehrten Dichters dazu aus Heidenheim an der Brenz gekommen war, wo er nach seinem Studium als Buchhändler gearbeitet hatte. Nicht nur Peter Suhrkamp erkannte die ungewöhnliche Begabung Unselds. 1955 lud ihn Henry Kissinger zu einem seiner Internationalen Seminare an die Harvard Universität ein. Daheim hatte sich der junge Verlagsmann gegen geschliffene Konkurrenz zu behaupten. Andere im Verlag waren eleganter und wohl auch gebildeter. Der 1924 in Ulm geborene ehemalige Marinefunker tat sich schwer im Flair der Diskussionen, in denen die Beherrschung des Tons eines imaginären europäischen Salons ebenso wichtig war wie die akademische Solidität, die er aus Tübingen wohl mitgebracht hatte. Dass Peter Suhrkamp, der schwerblütige und standfeste Oldenburger, unter seinen jungen Genies Unseld vorzog, als er 1958 Vorbereitungen hinsichtlich der Nachfolge an der Spitze des Verlages traf, mag mit einer partiellen Verwandtschaft der Temperamente zu tun gehabt haben: Unseld wurde zunächst in die Geschäftsführung berufen und 1959, nach dem Tod Suhrkamps, alleiniger Geschäftsführer.

Zeit seines Lebens hatte er damit zu kämpfen, dass einigen in Frankfurt dies wie eine Usurpation erschien. Wie bei dem einen oder anderen Politiker gehörte es lange Zeit zum guten Ton im Umkreis des Verlagshauses in der Lindenstraße, sich über Unselds unliterarische Ausstrahlung lustig zu machen und sein rustikal wirkendes Äußeres zu verspotten. In die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung wurde Unseld nicht aufgenommen, obwohl er spätestens mit seinem Buch über Goethe und seine Verleger ein Werk von anregender Intellektualität vorgelegt hatte. Dieses Versäumnis bleibt nun der Akademie als Makel.

Eine von Unselds imponierenden Stärken wurde ihm als bedenkliches Handikap ausgelegt: seine Geschäftstüchtigkeit, wozu bekanntlich die witterungsfähige Nase des Kaufmanns gehört. Legendär ist Unselds Coup, als er 1957 die amerikanischen Übersetzungsrechte für Hermann Hesse zurückkaufte: Wenig später wurden die Werke Hesses in den Vereinigten Staaten Bestseller. Nun schon ein halbes Jahrhundert lang ist Hesse ein Gewinnbringer für den Suhrkamp Verlag. Immer wieder gelang es Unseld, seinen Lieblingsdichter in neuen Ausgaben in die Buchhandlungen zu schaffen und ihm neue Lesergenerationen zu gewinnen. Hier wie zwar in vielen anderen Beispielen auch, aber nie so massiv hat Unseld gezeigt, was die Aufgabe des Verlegers ist, den Weg, den ein Autor in die Öffentlichkeit mit seinem Buch gehen soll, zu öffnen, offen zu halten und möglichst breit anzulegen. Verlegen heißt verbreiten, ausbreiten: ein Buch, eine Diskussion, eine Kultur.

Von Suhrkamp aus dem Feld geschlagen zu werden ließ immerhin noch eine Zukunftsperspektive offen

Umgekehrt kann es im Sinne der wirtschaftlichen Leistung eines Unternehmens auch bedeuten, Wege abzubrechen oder zu verändern. Dazu mögen bisweilen Rücksichtslosigkeit und ideologische Unbefangenheit gehören. Von beidem besaß Unseld genug, um von seinem Verlag die Gefahr, sich programmatisch zu verrennen, fern zu halten. Genau am Ende der 70er-Jahre, zwei Jahre bevor Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, stellte der Verleger die legendäre Reihe „edition suhrkamp“ ein. Aber so, wie er das tat, stellte er sie nicht ein, er wandelte sie um, fortan erschienen ähnliche Bändchen unter dem Rubrum „Neue Folge“. Die Zäsur jedoch war vorgenommen und verstanden worden. Der bewunderungswürdige Günther Busch, dessen unbedingt gedacht werden muss, wenn man der Jahre der größten gesellschaftspolitischen Erfolge in der Verlegervita Unselds gedenkt, wurde um das gebracht, was seine Lebensaufgabe gewesen war. Seit 1963 war die „edition suhrkamp“, nach der Abfolge der Bändchen in den Regenbogenfarben des genialen Buchgestalters Willy Fleckhaus, beginnend mit Wittgenstein, Günter Eich und T. S. Eliot, die große Gedankenschmiede für die Diskussionen der Studentenbewegung, auch das Magazin für ihren Gefühlshaushalt. Die „Swinging Sixties“ und die hochpolitisierten 70er in Deutschland kann man sich kaum vorstellen, ohne dass dieser Buchreihe dabei einer der vorderen Plätze auf der Zeitbühne eingeräumt wird. Wenn Unseld diese Reihe, so wie sie war, einstellte, dann weil er wusste, dass die Zeit dafür vorbei war. Und er hatte den Mut, entsprechend zu handeln.

Aber längst – schon 1973 – hatte Unseld eine andere Reihe – „suhrkamp taschenbuch wissenschaft“ – auf den Markt gebracht. Sie war etabliert, als ein anderer Typ von Student oder Studentin an die Universitäten kam. Als 1981 Kohl überall seine „geistig-moralische Wende“ propagierte, zu der er dann als Kanzler nichts beitrug, gründete Unseld nach dem Vorbild der französischen „Pleiade“ den „Deutschen Klassiker Verlag“. Im Jahr der Wiedervereinigung 1990 holte er den „Jüdischen Verlag“ in sein Haus. Seit 1963 hatte auch der „Insel Verlag“ dazu gehört. Unseld war ein weitsichtiger Unternehmer, vielleicht der „letzte Tycoon“.

Dennoch, im Zentrum seines Verlegerlebens steht das, was George Steiner die „suhrkamp culture“ genannt hat. Und was damit assoziiert wird, ist eine Kultur der Linken, die zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine hegemoniale Stellung von der Universität über das Theater bis zu dem gebildeten Lesekränzchen und dem genieverdächtigen Studenten in der Provinz reichte. Aber Unseld war nicht links. Und sein Programm war es auch nicht, zumindest nie nur. Er verlegte Max Frisch und Hermann Lenz, Peter Handke und Bert Brecht, Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, Herbert Marcuse und Hans Blumenberg. Er liebte Uwe Johnson und Samuel Beckett, aber er sorgte auch für Wolfgang Koeppen und Marin Walser. Das war zu einem guten Teil die deutsche Kultur dieser Zeit. Wir werden seinesgleichen nicht wiedersehen.