„Wir verurteilen den Moskauer Anschlag“

Kurz vor seiner Verhaftung gab der tschetschenische Spitzenpolitiker Achmed Sakajew der taz ein Interview

taz: Herr Sakajew, waren die Erstürmung des Musiceltheaters und die Anwendung des giftigen Gases vermeidbar?

Achmed Sakajew: Unbedingt. Die Anwendung von Gewalt war verfrüht. Die Behauptung, am Morgen wären zwei Geiseln erschossen worden, war unwahr. Es waren am nächsten Tag Verhandlungen mit Kasanzew [gemeint ist Wiktor Kasanzew, Unterhändler Putins für den Nordkaukasus; d. Red.] geplant, das heißt, es waren noch längst nicht alle Möglichkeiten einer friedlichen Lösung ausgeschöpft.

Wie erklären Sie sich dann das harte Vorgehen der russischen Behörden?

Wir haben den Eindruck, dass die russische Führung ein unblutiges Ende verhindern wollte. Abends, gegen 18 Uhr, hatte Selimchan Jandarbijew, der Interimspräsident Tschetscheniens von 1996 bis Februar 1997, bei den Geiselnehmern angerufen, um sie zum Aufgeben zu bewegen. Sein Angebot, persönlich mit ihnen zu sprechen, wurde von der russischen Führung abgelehnt. Die Erfahrungen ähnlicher terroristischer Akte mit dem Ziel, eine Ende des Tschetschenienkriegs zu erpressen, endeten unblutig. Ich bin überzeugt, dass Mowsar Barajew [der Anführer der Geiselnehmer; d. Red.] nach Zusagen von Verhandlungen die Geiseln freigelassen hätte. Putin hatte die Chance, den Tschetschenienkrieg zu beenden und die Geiseln zu retten.

Haben Sie eine Vermutung, um welches Gas es sich gehandelt haben könnte?

Am 9. April 1989 wurde in Tbilissi eine große Demonstration von Omontruppen [gemeint sind Truppen des Innenministeriums, d. Red.] bekämpft. Dabei wurde nicht nur mit geschliffenen Spaten auf die Demonstranten eingeschlagen, sondern auch ein Kampfgas eingesetzt, an dem viele Menschen sofort und einige noch nach Monaten starben. Ich kann nur hoffen, dass dieses gefährliche Gas nicht zum Einsatz kam. Auch damals hatte die sowjetische Führung die Zusammensetzung des Gases geheim gehalten und die richtige Behandlung der Opfer verhindert.

Was sagen Sie zu der Behauptung, dass drei der Terroristen fliehen konnten?

Das ist wahrscheinlich auch eine Lüge, um den Vorwand zu haben, in Moskau lebende Tschetschenen zu drangsalieren. Es haben auch in Tschetschenien sofort wieder Säuberungen eingesetzt, bei denen sicher viele Zivilisten zu Tode gefoltert werden. Wenn drei der Terroristen fliehen konnten, hätten sie auch die Sprengsätze zünden können.

Tschetschenien, ein Hort des internationalen Terrorismus?

Wir kämpfen gegen einen barbarischen Aggressor für unsere Unabhängigkeit. Der Feind, den wir bekämpfen, sitzt in unserem eigenen Land. Mit Terrorismus oder internationalem Terrorismus haben wir nichts zu tun. Wir, die tschetschenische Regierung, verurteilen den Anschlag in Moskau. Die Verbrechen der russischen Streitkräfte in Tschetschenien rechtfertigen nicht einen Angriff auf Frauen und Kinder. Die Geiselnahme in Moskau ist die Verzweiflungstat sehr junger Menschen. Der russische Krieg bekämpft nicht den Terrorismus, sondern er produziert ihn.

Wie meinen Sie das?

Der Krieg produziert verzweifelte Menschen, die so viel Leid erleben, dass sie unberechenbar reagieren können. Die eigentlichen Terroristen, Staatsterroristen, sind die russischen Streitkräfte, die mit der Bombardierung ziviler Ziele, mit der Anwendung international geächteter Massenvernichtungswaffen, mit der Einrichtung von Konzentrationslagern, mit willkürlichen Festnahmen, Folter, Mord, Geiselnahmen in tausenden Fällen und mit dem Verkauf der verstümmelten oder getöteten Opfer an die Angehörigen gegen alle Konventionen verstoßen.

Was erwarten Sie von den westlichen Regierungen?

Wir erwarten von den westlichen Regierungen, dass Sie aufhören, die russische Propaganda zu wiederholen, es handele sich bei dem Tschetschenienkrieg um einen Kampf gegen Terrorismus. Die Bombardierung und Drangsalierung der Zivilbevölkerung ist kein Kampf gegen Terrorismus. Wir erwarten, dass sie nicht der rassistischen russischen Logik folgen, alle Tschetschenen seien Terroristen und müssten vernichtet werden. Wir erwarten, dass sie uns als um unsere Selbstständigkeit kämpfende Parteien anerkennen und und in den politischen Dialog einbeziehen. Wir erwarten, dass die westlichen Regierungen sich nicht wie bisher davor drücken, die Völkerrechts- und Menschenrechtsverbrechen Russlands beim Namen zu nennen. Wir erwarten, dass die Weltgemeinschaft sich endlich resolut für eine Friedenslösung in Tschetschenien einsetzt und Pläne zum Wiederaufbau Tschetscheniens erarbeitet werden. Nur der Aufbau funktionierender ziviler Strukturen garantiert, dass nicht verzweifelte Menschen zu Mitteln des Terrors greifen. Dabei sollte bedacht werden, dass es nach der Gewalt zweier furchtbarer Kriege unmoralisch ist, von den Tschetschenen die staatliche Zugehörigkeit zur Russischen Föderation zu verlangen.

INTERVIEW: EKKEHARD MAASS