Kindheit im Lager

Eltern müssen Tochter 35.000 Euro Schadensersatz wegen verkorkster Jugend bei den Scientologen zahlen

Als die Beteiligten den Gerichtssaal betreten, würdigen sie sich keines Blickes. Als Mutter Susanne-Carola M. neben Tochter Vivien vor dem Richter-Tisch Platz nimmt, steht die junge Frau demonstrativ auf und tauscht den Stuhl mit ihrem Anwalt, sodass der Jurist wenigstens optisch einen Schutzwall bildet. Dass die Wunden tief sitzen, zeigt sich auch, als die Mutter das Wort zu ihrer Verteidigung ergreift, Vivien unter Tränen zusammenbricht und den Saal verlassen muss. Die heute 23-Jährige Vivien Krogmann klagt vor dem Landgericht auf Schmerzensgeld und Schadensersatz, weil ihre Sceintologen-Eltern sie als Kind zwei mal in Lager der Scientology-Organsiation (SO) nach England schickten und sie seither wegen der „Überwachungs- und Tribunalstimmung“ unter einer „posttraumatischen Belastungsstörung“ leidet.

„Es geht hier nicht um einen Musterprozess gegen die Scientology Organsiation“, versucht der Kammer-Vorsitzende Ernst Riechert das Verfahren zu entpolitisieren. Doch er weiß genau, dass dies nur formal stimmt. „Es ist das erste Verfahren dieser Art in der Deutschland“, sagt die Sektenbeauftragte der Hamburger Innenbehörde, Ursula Caberta. Und auch die Anwesenheit von SO-Sprecher Frank Busch belegt die Bedeutung.

Vivien Krogmann war als 12-Jährige zum ersten Mal im „Sea-Org“ -Lager in St. Hill bei London. In der paramilitärischen Einrichtung werden Jungen und Mädchen aus ganz Europa zur „Eliteeinheit“ gedrillt: Schwere körperliche Arbeit, Isolation, ständige Kontrolle, keine Schule, dafür die Lehren von Scientology-Guru L. Ron Hubbard. „Wir mussten da fünf Meter tiefe Gräben ausheben“, berichtet Vivien. 1997 kehrte sie von ihrem zweiten knapp dreijährigen Aufenthalt zurück. Obwohl schon damals bei der Organisation in Ungnade gefallen, konnte sie sich nicht lösen, heiratete sogar auf Drängen einen Scientologen.

Erst langsam erkannte sie, was die Eltern ihr angetan hatten. Kein Schulabsschluss, keine Lehre, Albträume und Schlafstörungen. 1999 kehrte sie der Organisation endgültig den Rücken – was in der Regel nicht einfach ist – holte Hauptschulabschluss und Lehre nach.

Vivien macht ihre Eltern für ihre verkorkste Jugend verantwortlich. Stiefvater Frank-Ulrich M. sieht in dem Verfahren aber nur eine Hetzkampagne gegen Scientology und „eine Menschenrechtsverletzung“. Seine Stieftochter werde von Caberta und Psychiatern „instrumentalisiert“. M. behauptet: „Ihre Zukunft war nicht von Erwerbstätigkeit geprägt, sie wollte eine ganz andere Karriere.“

Doch darin liegt laut Gericht der Kernpunkt des Prozesses. Die Eltern hätten Vivien durch die „Sea-Org“-Aufenthalte der Schulpflicht entzogen, und dafür könne sie sie heute zur Veranwortung ziehen, macht Riechert klar und drängt immer wieder auf einen gerichtlichen Vergleich. Nach mehreren Auszeiten stimmen die Eltern einer Schadensersatzzahlung von 35.000 Euro zu. Stiefvater M.: „Da kommt es auch nicht mehr drauf an. Heute ist ja Halloween.“ Peter Müller