Wer darf zuerst exekutieren?

„The Exonerated“: US-Kinostars bringen Erinnerungen von unschuldig zum Tode Verurteilten auf die Bühne

Am Abend des 24. Oktober, jenes Tages, an dem die vermutlichen Snipers von Washington gefasst wurden, verabschiedete der CNN-Moderator seine Zuschauer mit drei Sätzen in die Werbepause: „Verdienen diese Verdächtigen ein faires Verfahren? Wen kümmert das! Und: Was ist mit der Todesstrafe?“ Grammatikalisch handelte es sich dabei um Fragen; intoniert wurden sie als Plädoyer für Lynchjustiz.

Dass die amerikanische Öffentlichkeit Serienkillern wütend gegenübersteht, ist verständlich. Befremdlich hingegen ist, wie in diesem – und anderen Fällen – nicht das Verfahren das Urteil bestimmt, sondern ein Wunschurteil das Verfahren. Drei Bundesstaaten sowie die Gerichte des Bundesrechts (Federal Law) können den Snipers den Prozess machen. Maryland, wo mit sechs Toten die meisten Opfer zu beklagen sind, reichte die erste Anklage ein. Das „Problem“ jedoch erscheint Hardlinern, dass dort seit der Wiedereinführung der Todesstrafe 1976 nur drei Menschen hingerichtet wurden, während es im weniger zimperlichen Virginia 86 waren. Außerdem kann der 17-jährige John Lee Malvo in Maryland als Jugendlicher nicht zum Tode verurteilt werden – weshalb nun alle Hebel, besonders von Justizminister John Ashcroft, in Bewegung gesetzt werden, die beiden einem anderen Gericht zu überstellen. Den Zuschlag soll kriegen, brachten es die Daily News auf den Punkt, „wer sie zuerst exekutieren kann“.

65 Prozent der Amerikaner befürworten noch immer die Exekution, auch wenn ihre Zahl seit Jahren abnimmt. Die Aufweichung der Fronten hängt damit zusammen, dass heute aufgrund von DNA-Analysen immer häufiger Justizirrtümer nachgewiesen werden. New York wird gerade von einem solchen Fall beschäftigt, dem so genannten „Jogger Case“. Fünf schwarze und hispano Jugendliche aus Harlem wurden 1989 beschuldigt, eine weiße Joggerin im Central Park vergewaltigt, verprügelt und zum Sterben liegen gelassen zu haben. Sie überlebte nur knapp. Donald Trump platzierte ganzseitige Anzeigen in vier New Yorker Zeitungen, die die Wiedereinführung der Todesstrafe auch für Jugendliche forderte. Schuldbeweise gab es kaum, außer der Tatsache, dass die Gang kriminelle Energie besaß und sich blonde Haare bei zwei Jungs fanden. Alle wurden verurteilt. Im Januar dieses Jahres gestand ein Serienvergewaltiger die Tat und DNA-Tests bestätigten darauf die Unschuld der Jugendlichen.

Sechs Geschichten von unschuldig zum Tode Verurteilten erzählt ein Theaterstück, das derzeit in Manhattans Bleecker Theater vor fast ständig ausverkauftem Haus spielt. Für „The Exonerated“ haben die Autoren Jessica Blank und Eric Jensen 40 Telefongespräche und 20 Face-to-Face-Interviews mit Menschen geführt, die unschuldig im Todestrakt gesessen haben. Aus dem Material entstand eine Textcollage, die Aufzeichnungen von drei weißen und drei schwarzen Todeskandidaten ineinander schneidet, erweitert um Daten aus den Akten, ohne Fiktion.

Diese nüchterne und differenzierte Beschreibung von Menschen, die noch immer nicht begreifen können, wie ihr Leben so unverhofft zum Albtraum werden konnte, macht „The Exonerated“ zu einer beeindruckenden Vorstellung. Regisseur Bob Balaban lässt die zehn Schauspieler die Ereignisse nicht nachspielen, sondern erzählen; man konzentiert sich ganz auf die Gesichter und Sprachmelodien. Getragen wird die Reduktion durch eine Starbesetzung: Richard Dreyfuss, Debra Winger, Jeff Goldblum, Mia Farrow, Harry Belafonte, Susan Sarandon und Steve Buscemi sind nur einige, die das Projekt mit wechselnder Besetzung unterstützen. Das mag verdammt nach „guter Sache“ klingen – aber gegen eine gute Sache ist schließlich im Theater nichts einzuwenden, wenn sie so gut präsentiert wird. Bestechend ist dieses Spiel von Fassungslosigkeit, Wut, beschämender Dankbarkeit und gelegentlichem freundlichen Sarkasmus: „Ich sage immer“, so Delbert Tibbs, „wenn du schwarz bist und im Süden eines Sexualverbrechen angeklagt wirst, solltest du es vermutlich getan haben.“

Auch Donald Trump hat seinen Humor nicht verloren. In der Anzeige 1989 hatte er das Plädoyer des damaligen Bürgermeisters Koch gekontert, den „Hass aus den Herzen verschwinden“ zu lassen. „Ich will diese Räuber und Mörder hassen.“ Als am Sonntag vor dem Trump Tower Demonstranten mit Schildern eine Entschuldigung von ihm forderten, blieb er gelassen: „Das ist mir egal, ob die da rumlaufen. Ich mag Demonstrationen mit Schildern.“ CHRISTIANE KÜHL