Amerikas schmutzigste Wäsche

Sind sie nun Revolutionäre oder bloß Soundterroristen? Vor bald dreißig Jahren kamen Martin Rev und Alan Vega, die beiden Jungs von Suicide, auf die Idee, Rock ’n’ Roll mit Synthesizern zu spielen. Nun wird eine der einflussreichsten und zugleich erfolglosesten Bands aller Zeiten wieder entdeckt

Es ist anstrengend, so zu klingen, als wäre es einem egal, wie man klingt

von THOMAS WINKLER

Die Sonnenbrillen sind dunkel, die Bekleidung ist dunkler, die Geschichten sind alt. Sehr, sehr alt. Eine Schwermut, die scheinbar wie von selbst aller Historie innewohnt, ist allgegenwärtig. Martin Rev und Alan Vega erzählen. Erzählen von New York City in den 70er-Jahren, von einer fliegenden Axt, erzählen von Krawall und Aufruhr, von billigen Synthies, erzählen von Terroristen und Demonstranten und davon, wie es ist, von der Hand in den Mund zu leben, nur weil man auf die mal als ziemlich grotesk angesehene Idee gekommen war, Rock ’n’ Roll mit Synthesizern zu spielen.

Andere erzählen eine andere Geschichte. Sie blicken von außen auf Rev und Vega und ihre Leistungen und berichten von Pioniertaten, von Grundlagen, vom Geschichteschreiben. Suicide, seit nun schon 31 Jahren der Markenname, unter dem Rev und Vega mit Unterbrechungen aufnehmen und auftreten, haben – da ist man sich weitgehend einig – einen Einfluss auf die Entwicklung der elektronisch erzeugten Popmusik genommen, der bestenfalls von dem von Kraftwerk übertroffen wird. Denn in den bewegten 70ern – in denselben Clubs, in denen zur gleichen Zeit die New York Dolls den Glam-Rock erfanden und Velvet Underground sich selbst –, damals nahmen Suicide nicht weniger vorweg als „Punk, Synthiepop und Techno“. Das bescheinigt ihnen Wire, die monatliche Bibel für abseitige Musiken. So unterschiedliche Zeitgenossen wie Sonic Youth, Elvis Costello, Henry Rollins, Depeche Mode, Stereolab, Soft Cell, Atari Teenage Riot, Pulp, ja sogar Bruce Springsteen haben sie als mächtigen Einfluss genannt. Dabei blieb ihre eigene Karriere von grandioser kommerzieller Erfolglosigkeit geprägt: Jedes Label, das eine Suicide-Platte veröffentlichte, schien innerhalb von wenigen Monaten Pleite zu gehen.

Nun aber haben Legenden mitunter die Angewohnheit, länger am Leben zu bleiben, als der Legendenbildung lieb sein kann. Auch mit Rev und Vega sitzen einem zwei grumpy old men gegenüber, sichtlich in ihren Fünfzigern, die das semi-erfolgreiche Modell Alter-Sack-aus-New-York fast schon überzeugender darstellen können als dessen Prototyp, Lou Reed. „Ich bin froh, überlebt zu haben“, sagt Vega. Und wenn man, während er das sagt, einen Blick auf ihn werfen darf, klingt es nicht einmal pathetisch, sondern ziemlich realitätsnah. Paradoxerweise aber waren Vega und Rev in den drei Jahrzehnten des Bestehens von Suicide nicht in der Lage, ihrem Status Schaden zuzufügen. Dabei haben sie der Welt allerlei Gottserbärmliches geschenkt. Allerdings entpuppte sich manche Veröffentlichung in Nachhinein als ihrer Zeit voraus.

So lässt sich wohl auch die Verwirrung erklären, die die Rezensenten befällt anlässlich von „American Supreme“, des ersten Suicide-Albums seit zehn Jahren: Die einen geben die jugendlichen Denkmalstürzer und watschen das Werk als langweilig und altbacken ab. Die anderen erstarren in Ehrfurcht. Das Ergebnis: „American Supreme“ ist grandios gut. Oder eben saumäßig schlecht. Nur eines ist diese Platte nicht: mittelmäßig.

„American Supreme“ ist erst das insgesamt fünfte Studio-Album von Suicide. Er arbeite anderthalb bis zwei Jahre an einer Platte, erzählt Rev, und man fragt sich unwillkürlich, ob diese Mühe denn zu hören ist. Sie ist es. Und auch wieder nicht. Womit wir beim nächsten Suicideschen Paradoxon angekommen wären: Es kostet Anstrengung, so zu klingen, als wäre es einem egal, wie man klingt. Am besten geht das wohl, wenn man aus New York stammt, also schon cool auf die Welt kam, und außerdem den lieben langen Tag Sonnenbrillen trägt.

Das waren die Voraussetzungen in diesen frühen 70er-Jahren, als Alan Vega, gebürtig in Brooklyn, sich ein Tamburin schnappte und sich ungefragt auf die Bühne zu einer Free-Jazz-Combo namens Reverend B gesellte. Deren Keyboarder hieß Martin Rev, kam aus der Bronx und dürfte wohl eher beeindruckt gewesen sein von der Chuzpe des Eindringlings als von seinen musikalischen Fertigkeiten – aber an diesem Abend in Manhattan wurde der Keim gelegt zur einflussreichsten und zugleich erfolglosesten Band aller Zeiten.

Fortan bespielten die beiden jeden Club in New York, der sie auf die Bühne lassen wollte, und das waren nicht viele, denn meistens zeigte sich das Publikum aufgebracht vom Dargebotenen und richtete dann Schaden an. Stoisch stand Rev zwischen zwei Keyboards und einem reduzierten Schlagzeugset. Vega glänzte mit reduzierten Gesängen, kippte Zuschauern Drinks über den Kopf und drückte Zigaretten auf ihren Oberarmen aus. Thurston Moore von Sonic Youth, damals ein blutjunger Fanzine-Schreiber, berichtet gar, Vega habe Frauen an den Haaren über die Bühne geschleift. „Kriegsgebiet“, sagt Vega heute, seien ihm die Bretter gewesen, die anderen die Welt bedeuten.

Aber es war nicht nur die Präsentation. Wie auch die parallel agierenden Velvet Underground waren Suicide beeinflusst von den experimentellen Kompositionen von Terry Riley und La Monte Young. So schrie und ächzte Vega monoton, während Rev seinen Moogs und Polyphonics Unerhörtes entlockte: Bis dahin waren Synthesizer hauptsächlich dazu verwendet worden, bei Aufnahmen Geld zu sparen, indem man elektronisch Streicher imitierte. Anders Rev: „Wir klangen immer anders.“ Erst die „Textur der Elektronik“ ermöglichte es, „sich auf die Suche nach Klängen zu begeben, die man sich selbst nie hätte ausdenken können“. Und „gerade aus Unfällen entsteht vieles“, erklärt Vega eine Strategie, die sich heute in der Electronica längst durchgesetzt hat.

Nicht der Mensch ist kreativ, sondern die Fusion aus Mensch/Maschine findet wie von selbst ihren Klang und Rhythmus. Auch diesen Abschied vom Schöpfergenius haben Suicide vorweggedacht. Längst haben ihn Mouse on Mars, Add N to (X) oder andere als selbstverständlich übernommen. Nur mehr eine Randbemerkung, dass die von Suicide erstmals entworfene Arbeitsteilung zwischen Maschinist/Produzent und Sänger/Texter längst klassisch geworden und von unzähligen Synthiepop-Duos adaptiert wurde.

Was heutzutage Allgemeingut geworden ist, war damals weitgehend unerforschtes Terrain. Vor 30 Jahren fand Rev auf seinen Soundexpeditionen einen ganzen schwarzen Kontinent vor. Aus den Klängen, die er dort entdeckte, formte er für das legendäre Debütalbum von 1977 einen kühlen, minimalistischen, elektronischen Rock ’n’ Roll, über dem Vega eher eindringlich rezitierte als sang. Damals aber war das Publikum nicht vorbereitet auf diesen Sound, der alle Hörerfahrungen überschritt. Als Vorgruppe für Elvis Costello lösten sie einen solchen Krawall aus, dass der Hauptact gar nicht mehr auf die Bühne musste. Aber vor allem „die Clash-Fans hassten uns“, erinnert sich Vega, und schmissen in Glasgow schließlich eine Axt. Vega: „Flog direkt an meinem Ohr vorbei.“

Sound als Angriff, als Anklage. Er verstörte, weil er so disparat war, weil er funkig war und rockig und doch zerstörerisch und verzweifelt. „Alle unsere Platten“, sagt Rev heute, „waren Kommentare zur aktuellen Lage Amerikas.“ Sehen Sie sich als Soundterrorist, Herr Rev? „Nein, niemals,“ antwortet Herr Rev. „Du Lügner“, lacht da Herr Vega und entblößt dabei auf seinem Unterkiefer eine braun verfärbte Kauleiste, die mehr als drei Jahrzehnte Sex and Drugs and Electro ’n’ Roll und nicht zuletzt den maroden Zustand des US-amerikanischen Gesundheitssystems dokumentiert. „Dachau, Disney, Disco“ heißt einer der neuen Tracks, „Swearin’ to the Flag“ ein anderer. „Die USA sind eine ökonomisch-faschistische Gesellschaft. Sie stellen dich nicht an die Wand, sie hungern dich aus“, lamentiert Vega. Und Rev plaudert: „Terrorismus ist heutzutage ein höchst lukrativer Industriezweig, denn 90 Prozent der Terroristen arbeiten für die Ölkonzerne und die Rechten. Die restlichen 10 Prozent werden nur deshalb Terroristen genannt, weil sie wie die Palästinenser keinen Staat und damit keine reguläre Armee haben.“ Vega ergänzt: „In den 70ern benutzte niemand das Wort Terrorist. Damals war man ein Revolutionär.“

Damals waren sie Revolutionäre. Ohne Zweifel. Was sind Suicide heute? „Amerikas dreckigste Wäsche“, meint Vega und bezieht sich darauf, dass die Pioniertaten des Duos in der Heimat weiterhin standhaft ignoriert werden. In Europa spielt man mittlerweile vor vollen Sälen und zum Interview tritt eine ganze Riege musizierender Verehrer an, von Brezel Göring (Stereo Total) bis zu Chicks on Speed. „Wir haben unser Geld nie in Amerika verdient“, so Rev.

In den USA quasi nicht stattzufinden, hat Rev erkannt, „erlaubt es uns, uns nicht vereinnahmen zu lassen“. Und tatsächlich: Wie man auch immer die musikalische Qualität von „America Supreme“ einschätzen mag, die Platte erfüllt inhaltlich alle Vorgaben ihres ironisch gemeinten Titels. Suicide sind locker auch zu Beginn ihres vierten Jahrzehnts die politisch radikalste amerikanische Band.

Für seinen dreijährigen Sohn Dante hat Vega, der nur wenige Blocks entfernt vom Ground Zero lebt, ein Wiegenlied geschrieben. „Child, It’s A New World“. Ja, es ist eine neue Welt, das hat uns eine neue Generation von Kommentatoren immer wieder versichert. Einen der eher zeitgemäßeren Kommentare aber liefern paradoxerweise zwei alte Säcke und ihr Electro-Boogie, der, so schien es, längst von der Zeit überholt war. So schien es denen, die noch nie nachts die Welt durch eine Sonnenbrille betrachtet haben.