Eine Welt ist nicht genug

Arbeit schwindet zunehmend – zumindest in der Realität. Im Internet dagegen sieht es anders aus:Auf den Servern von Online-Rollenspielen herrscht Vollbeschäftigung – für 12,95 Dollar im Monat

Marcuse irrt: Es geht nicht um das freie Spiel individueller FähigkeitenDie Spieler zahlen Eintritt, um ihre Identität durch Arbeit bestimmen zu lassen

von KONRAD LISCHKA

Das hier muss es sein, das globale Dorf: Hühner und Schweine laufen zwischen Schmied und Gerber umher, sogar ein paar Kühe trampeln über die Wiesen am Dorfrand. Kommt man mittags – nach Mitteleuropäischer Winterzeit – hierher, steht die Sonne womöglich tief zwischen den Fachwerkhäusern. Und dann wird man mit „Good morning“ begrüßt, weil es an der Ostküste der Vereinigten Staaten gerade sieben Uhr früh ist. Im selben Augenblick verabschiedet sich jemand mit „Good night“, denn in Seoul ist es schon zehn Uhr abends. Dieses Dorf gibt es allerdings nur im Computer; es liegt irgendwo in Austin, Texas – auf einem Server des Online-Rollenspiels „Lineage“.

Solche Spiele kosten viel Zeit und Geld. Glaubt man dem Hersteller von „Everquest“, einem anderen Onlinespiel, verbringt ein durchschnittlicher Spieler 20 Stunden je Woche in der fiktiven Welt von Norrath. Er zahlt dafür 12,95 Dollar Abo-Gebühren im Monat. Laut Marktforschern sollen im Jahr 2004 die Einnahmen aus diesen Gebühren für Online-Rollenspiele 2,3 Milliarden Dollar betragen. Der Markt boomt. Drei neue Titel mit dem Anspruch auf ein Publikum von mehreren hunderttausend Spielern – „Sim online“, „Star Wars Galaxies“ und „Shadowbane“ – erscheinen um die Jahreswende. Trotz weltweit flauer Konjunktur und steigender Arbeitslosigkeit – oder gerade deswegen.

Versucht man, den Reiz von Spielen wie „Everquest“ oder „Lineage“ zu beschreiben, wird bald klar, dass sie ganz anders funktionieren, als Herbert Marcuse das ideale Spiel in seiner klassischen Studie „Triebstruktur und Gesellschaft“ beschrieben hat: „Von den Erfordernissen der Herrschaft befreit, führt die quantitative Abnahme der Arbeitszeit und Arbeitsenergie zu einer qualitativen Wandlung im menschlichen Dasein: Die Freizeit und nicht die Arbeitszeit bestimmt seinen Gehalt. Der wachsende Bereich der Freiheit wird wirklich zu einem Bereich des Spiels – des freien Spiel der individuellen Fähigkeiten.“

Da hat Marcuse die Rechnung ohne die Internet-User gemacht. Spiele wie „Everquest“ fördern zwar ein Spiel der individuellen Fähigkeiten – jedoch kein freies. Die Spieler selbst schaffen vielmehr durch ihr Verhalten ein Wirtschaftssystem mit Märkten für Dienstleistungen und Güter, die nach altbekannten Gesetzen funktionieren. Die inzwischen Fiktion gewordene vollbeschäftigte Erwerbsgesellschaft entsteht neu. Die Folge: Die Freizeit bestimmt als eine neue Form der Arbeitszeit die Identität des Spielers.

Die fundierteste Analyse dieser Entwicklung hat bisher natürlich ein Wirtschaftswissenschaftler geschrieben. Edward Castranova von der California State University in Fullerton hat die Spielwelt des Online-Rollenspiels „Everquest“ in einer Studie als Wirtschaftssystem analysiert. Demnach liegt das Bruttoninlandsprodukt von Norrath je nach Berechnungsmethode zwischen dem von Bulgarien und Russland. Dieser Vergleich ist möglich, weil viele Menschen die virtuelle Währung Norraths bei Onlineauktionen kaufen – und mit echten Währungen bezahlen. Auf Basis dieses Wechselkurses hat Castranova den Wert der in Norrath produzierten Waren errechnet. Seine Schlussfolgerungen verblüffen: Ein „Everquest“-Spieler verdient – umgerechnet – 3,42 Dollar je Spielstunde. Doch dabei ist die Einkommensverteilung ähnlich unausgewogen wie in südamerikanischen Staaten.

Die Spieler in „Everquest“ erproben keineswegs – dort theoretisch durchaus mögliche – alternative Formen des Zusammenlebens. Es herrscht stattdessen Arbeitsteilung. Und der Wert einzelner Tätigkeiten wird auf dem freien Markt bestimmt. Das geht so: Manche Spieler entscheiden sich für einen Magier als Spielcharakter. Deren besondere Fähigkeit ist, ein wenig Ausbildung vorausgesetzt, die Transportation. Sie können Menschen von A nach B zaubern und tun das gegen Geld. Andere Spielcharaktere haben ihre Stärken eher im sekundären als im tertiären Sektor. Sie können beispielsweise Schwerter schmieden. Castronova: „Was die Leute dort machen, kann man als Arbeit bezeichnen. Für Ökonomen gilt alles als Arbeit, was ein Mensch tut, um einen Gewinn zu erzielen. Es gibt in ‚Everquest‘ einen Markt für Dienstleistungen. Die werden unterschiedlich bezahlt. Wenn der Job langweilig ist, ist er besser bezahlt. Das ist normal. Auf allen Märkten der Welt sieht man solche Unterschiede.“

Doch die Arbeit in „Everquest“ und „Lineage“ bringt nicht nur Geld. Sie schafft auch Identität. Wenn man am Anfang des Spiels einen Charakter erschafft, muss man meistens die so genannte Charakterklasse bestimmten. Zur Auswahl stehen meist Berufe wie Magier, Dieb oder Kämpfer. Diese Entscheidung bestimmt die Entwicklung des Spielcharakters enorm. Die Reaktionen der computergesteuerten Charaktere, der menschlichen Mitspieler, ja sogar die der Tiere hängen entscheidend vom Beruf des Spielercharakters ab. Identität wird zu einem großen Teil durch Arbeit definiert – ein Magier ist eben in erster Linie ein Magier.

Hier werden jene Verhältnisse wieder erschaffen, die André Gorz einst im Präteritum beschrieb: Die gesellschaftlich bestimmte, gesetzlich anerkannte, auf Grund erworbener, beglaubigter und tariflich festgelegter Fähigkeiten definierte Arbeit „vermittelte dem Einzelnen das Gefühl, nützlich zu sein, ohne dies beabsichtigen zu müssen: auf objektive, unpersönliche und anonyme Weise nützlich und als nützlich anerkannt durch den ausgezahlten Lohn und die damit verknüpften sozialen Rechte.“

Apropos Anerkennung. In Online-Rollenspielen wird der Lohn in zwei Währungen ausgezahlt: in Geld und in so genannten Erfahrungspunkten. Diese drücken aus, wie viele Siege, wie viele Niederlagen ein Spielcharakter bei der Arbeit – also etwa dem Zaubern, Kämpfen, Stehlen – erfahren hat. Je mehr Erfahrungspunkte man hat, desto mächtiger wird man und desto mehr Geld kann man verdienen. Je länger man spielt, je mehr man gegen die für Fantasyspiele typisch klischeehaften Unholde, Dämonen und Monster kämpft und siegt, desto mehr Macht hat man, desto freier kann man sich durch die Welt bewegen. Bei diesem Aufstiegs- und Belohnungssystem zieht der US-Psychologe Nicholas Yee in einer Arbeit über Online-Rollenspiele sogar eine Parallele zu den Konditionierungs-Experimenten des Behavioristen Frederic Skinner Burrhus. So viel zu sozialen Rechten.

Die Welten von Online-Rollenspielen wie „Lineage“ oder „Everquest“ folgen denselben wirtschaftlichen Gesetzen wie jene außerhalb der Server. Doch eins ist anders: Hier ist niemals jemand ohne Aufgabe, niemals jemand ohne Arbeit. Alle Spieler sind nützlich, sehr nützlich sogar. Diese Inszenierung hat Starr Long, der Produzent der US-Version von „Lineage“, so beschrieben: „Im Einzelspiel fühlt man sich als etwas Besonderes, in Onlinespielen meistens durchschnittlich, im schlimmsten Fall wie ein passives Opfer. Wir müssen das Gefühl, etwas Besonderes zu erleben, mit der Möglichkeit, solche Erfahrungen mit anderen zu teilen, vereinen.“ Jeder Spieler soll sich also nicht nur „auf objektive, unpersönliche und anonyme Weise nützlich“ vorkommen, wie André Gorz es beschrieb. In der gespielten Arbeitsgesellschaft soll jeder auf eine sehr konkrete Art anerkannt werden. Im besten Fall als Held.

Tatsächlich hat ein Spieler etwa in „Everquest“ niemals das Gefühl, sein Handeln sei ohne Bedeutung für die Spielwelt. Selbst die Banalitäten des Lebens haben einen Sinn. Wenn in „Everquest“ eine Diebesgilde mit einem Einbruchsauftrag an einen herantritt oder auch nur eine Wirtin darum bittet, das Mittagessen zum Bürgermeister zu transportieren, nachdem man den größten Teil des Tages über Nahrung und Geld aufgetrieben hat – dann liegt ein ungeheures Gefühl von Bedeutung darin. Online-Rollenspieler halten es also eher mit Ernst Jünger als mit Marcuse. Jünger schrieb Anfang der 30er-Jahre in „Der Arbeiter“: „Das Gegenteil von Arbeit ist nicht etwa Ruhe oder Muße, sondern es gibt unter diesem Gesichtswinkel keinen Zustand, der nicht als Arbeit begriffen wird. Als praktisches Beispiel dafür ist die Art zu nennen, in der schon heute vom Menschen die Erholung betrieben wird. Sie trägt entweder, wie der Sport, einen ganz unverhüllten Arbeitscharakter oder sie stellt, wie das Vergnügen, die technische Festivität, der Landaufenthalt, ein spielerisch gefärbtes Gegengewicht innerhalb der Arbeit dar.“

Der Unterschied ist, dass heute ein „spielerisches Gegengewicht“ immer weniger existieren kann, weil jene Form der Erwerbsarbeit, wie sie „Everquest“ heraufbeschwört, außerhalb der Server verschwindet. Online-Rollenspiele nähren nur noch die Fiktion einer vollbeschäftigten Erwerbsgesellschaft. Offenbar fällt es den meist 18- bis 30-jährigen Spielern schwerer, als von manchen Soziologen gedacht, außerhalb der Arbeit Sinn und Selbst zu finden. Für solche identitätsstiftende Arbeit zahlen immer mehr Menschen 12,95 Dollar und mehr im Monat.