Erfüllung in Rosa

Mit „Filmfarben“ ist der erste Band der ausgewählten Schriften der Filmkritikerin Frieda Grafe erschienen

Der Einband dieses Buches ist rosa. Nicht blass-, alt- oder babyrosa, sondern in dem Ton, in dem kolorierte Comics die Haut von Schweinchen präsentieren. Eine Farbe, die an Marshmellows und an Kindheit erinnert, ein aufgehelltes Pink. Trägt man das Buch länger mit sich herum, legen sich graue Partikel auf die raue Oberfläche des Einbandes. Das Knallige, das Leuchtende der ursprünglichen Farbe treten hinter einer feinen Schmutzschicht zurück. Etwas Ähnliches geschieht mit Farbfilmen. Sie geben ihre ursprünglichen Farben zugunsten eines Rotstichs preis, werden sie über die Jahre hinweg gelagert.

„Farbe lässt sich besser umschreiben als beschreiben“, liest man auf einer der ersten Seiten dieses Buches, das „Filmfarben“ heißt und Texte der im Sommer verstorbenen Filmkritikerin Frieda Grafe versammelt. „Die Emotionen, die sie auslöst, sind zu einem Teil vorauszusehen; der andere Teil ist subjektiv – von visuellen, taktilen, emotionalen Erinnerungen bedingt.“ Farbe ist also nichts, was einfach da ist, sondern etwas, das erst geschehen muss: als Farbe eines Gegenstandes, die je nach Lichtverhältnissen und den Farben der Umgebung variiert und überdies von der Wahrnehmung des Betrachters abhängt. Damit ist mehr als der Sehsinn gemeint: „Ich kann, wenn mich die Lust auf Safranreis ankommt, schwer unterscheiden, ob ich mir die Farbe oder den Geschmack ausmale“, schreibt Grafe.

Hinzu kommt, dass, wo Farbe technisch reproduziert wird, die Gegebenheiten des Wiedergabematerials sie beeinflussen. Unterschiedliche Farbfilmsysteme wie Technicolor oder Agfacolor produzieren – zumal in ihren jeweiligen Entwicklungsstufen – unterschiedliche Farbskalen. Und sie trügen: Als Beispiel notorisch ist in diesem Zusammenhang, dass Farbfilm helle Hauttöne differenzierter wiedergeben kann als dunklere. In der Folge erscheint das Gesicht eines weißen Schauspielers facettenreicher als das seines schwarzen Kollegen. Es bedarf nicht viel der Fantasie, um sich vorzustellen, wie die scheinbare Unschuld der technischen Voraussetzung und die Idiosynkrasie sich herzen.

Es gibt also viel zu erforschen. Dennoch bewegt sich Grafe mit ihren Reflexionen auf relativ unerschlossenem Terrain. Wer Film analysiert, beschwert sie sich, schreibt über Schnitt, Kadrierung, mise en scène, vielleicht über Erzählungen und deren kulturkritischen, zeitdiagnostischen Mehrwert. Formen und Inhalte lassen die Farbe in den Hintergrund treten. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass Farbe eine seltsame Asymmetrie hervorruft: Zum einen lässt sie sich in der Beschreibung schwieriger fassen als etwa eine Bildachse, eine Kamerabewegung oder eine filmhistorische Liste. Zum anderen drängt sie aufgrund ihrer symbolischen Aufladung zu vorschnellen Interpretationen – dann hieße Rot immer schon Leidenschaft, Weiß Unschuld, die blonde Schauspielerin verkörperte die anständige, die schwarzhaarige die durchtriebene Figur (wer an Marilyn Monroe denkt, weiß, dass eine schlichte symbolische Gleichung in die Irre führt).

Die Asymmetrie ändert also nichts an der Bedeutung von Farbe: „Bewusst eingesetzte, intensive Farbe ist eine Spur, die ins Innere der Filme führt“, notiert Grafe, und was sie von dort hervorholt, ist ausgesprochen lesenswert. Sie hat ein besonderes Auge für die Umschwünge, die Veränderungen, die wechselseitigen Bedingtheiten, denen ihr Sujet im Lauf der Zeit unterworfen ist. Als die Farbe in den Film trat, war sie zunächst Indiz für das Fantastische. Sie tauchte im Musical auf und im Märchenfilm. Wo Realismus herrschen sollte, herrschte auch Schwarz-Weiß. Über das Hollywood der Dreißigerjahre heißt es: „Dass Farbe plus Musik die perfekte Mischung und die geeignete emotionale Basis für Melodramen abgäbe, entdeckte man später; zunächst galt der ,meteorologische Optimismus‘ von Farbe als unpassend für dramatische Sujets.“

Als im Zweiten Weltkrieg mit Material von Kodak erste Farbaufnahmen von den Kriegsschauplätzen gemacht wurden, begann sich diese Auffassung zu ändern; ein zweiter Umschlag kam mit dem Farbfernsehen: Farbe, zuvor das Besondere, das Überschüssige, wurde zum Gewöhnlichen, Schwarz-Weiß zum Terrain des Traums und der ästhetischen Emphase. Parallel dazu färbten die Filmfarben auf die äußere Wirklichkeit ab, auf Werbetafeln, Produktdesign, Mode – und von dort wieder zurück auf den Film. „Es hat nicht lange gedauert“, schreibt Grafe über Jerry Lewis, „bis seine unrealistischen Modelle und perversen Farbkombinationen amerikanische Realität wurden. Jerry Lewis ist im ,Nutty Professor‘ in den ,Traumsequenzen‘ heute viel realistischer als in seiner Alltagsrolle. Die zweite Natur ist mittlerweile zur ersten geworden. Die Farben sind in Erfüllung gegangen – so wie ein Jahrhundert vorher die Sehweise der Impressionisten eine neue Weltanschauung schuf.“

Frieda Grafe hat vielen Autoren, die sich mit Film befassen, etwas Entscheidendes voraus: Sie handhabt die vielen Variablen des Sujets, ohne sich je im Vagen zu verlieren, und sie versteht sich darauf, Bezüge – seien sie theoretischer, kunstgeschichtlicher, literarischer, soziologischer Natur – herzustellen und fruchtbar zu machen. Das ist dann nicht nur von filmgeschichtlichem Interesse, sondern schafft, en passant, in einem Schreiben, das vagabundiert und zugleich kristallin ist, Ausblicke auf eine Geschichte der Wahrnehmung.CRISTINA NORD

Frieda Grafe: „Filmfarben“. Brinkmann & Bose, Berlin 2002. 150 S., 22 €