Heimspiel

Bald ist Weihnachten, und deshalb heißt es: Herzlich willkommen in einem früheren Leben

Es geht schneller als man denkt. Eine knappe Viertelstunde, nachdem der Intercity-Express den Bahnhof Zoologischer Garten verlassen hat, ist von der Stadt nichts mehr zu sehen. Am Rand der Bahntrasse liegen leere Zigarettenschachteln und zusammengedrückte Blechdosen im Schneematsch, einzelne Häuser fliegen vorbei, und hinter den getönten Zugfenstern schimmert der Himmel in sanftem Grau. Hier kennen wir uns aus. Wir kennen zwar keines der brandenburgischen Dörfer, die wir gerade mit 183 km/h Reisegeschwindigkeit durchqueren, beim Namen. Aber trotzdem haben wir das Gefühl, mit dieser Landschaft besser als mit jedem anderen Ort der Welt vertraut zu sein. Wir sind wieder dort, wo wir herkommen. Wir sind mitten in der Provinz. Herzlich willkommen.

Eigentlich sollten wir gar nicht hier sein. „Fährst du dieses Jahr …?“ Natürlich nicht. Wir haben in den letzten Wochen lange genug am Telefon darüber geredet. Michael war nach Italien eingeladen, zu den Eltern seiner Freundin. Kerstin hatte zu viel Arbeit, Jörg fühlte sich nicht weihnachtlich, Steffi hasst die überfüllten Züge und wollte lieber an die Sonne. Das waren alles keine schlechten Ausreden, und Matthias nahm wie immer gar nicht erst den Hörer ab.

Irgendwie haben wir es uns dann doch anders überlegt und sitzen jetzt alle in einem der vollklimatisierten Großraumabteile. Nur Michael hat es angeblich wirklich nach Italien geschafft. Wir anderen fahren aus unterschiedlichen Richtungen zurück in unsere Kleinstadt. Unsere kleine Stadt. Einmal im Jahr. Warum nicht. Im Grunde genommen ist es ja eine ganz romantische Vorstellung, selbst wenn man sich nicht mit dem Auto durch meterhohe Schneewehen kämpfen muss. Driving home for Christmas … get my feet on holy ground: Chris Rea lief in den letzten Wochen in jedem Supermarkt und außerdem dreimal am Tag im Radio.

Es muss eine Zeit gegeben haben, in der man sich leichter damit tat, heiligen Boden unter die Füße zu bekommen. Vor hundert Jahren war die Provinz noch ein segensreicher Landstrich, in dem einem all das zuteil wurde, was man in den modernen Großstädten nicht erhoffen durfte. Natur. Frieden. Ruhe. Frische Luft. Heimatgefühle. Das war die Zeit der guten, alten Provinz: einer heilen Welt, einer idyllischen Landschaft aus Wäldern, Wiesen und Flüssen, in der malerisch eingebettet schnuckelige Dörfer und beschauliche Kleinstädte mit gepflegten Obstgärten lagen. Die Menschen hier galten als ein bisschen verbohrt und rückständig, aber wenn man darüber hinwegsah, konnte man sich wahrscheinlich wohl fühlen.

Irgendwann wurde die frische Luft dann muffig. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hatte ein Teil Deutschlands in den Dörfern und kleinen Städten noch einmal seinen Frieden gefunden. Doch es dauerte nicht lang, und die Provinz der Adenauerrepublik geriet gerade deswegen unter Verdacht: Sie erschien als Rückzugsgebiet der ewig Gestrigen, als unheiliger Boden, auf dem der Papst, ein paar alte Nazis und andere Reaktionäre ihre Felder bestellten. Es war Zeit für eine Kulturrevolution. Aber während man in den großen Städten lauthals über die Veränderung der Gesellschaft diskutierte und Steine schmiss, wurde die Provinz leise und zunächst beinahe unbemerkt umgepflügt.

Damals sagte man gerne, dass es eng sei in der Provinz. Die Generation unserer Eltern hat sich diesen Vorwurf zu Herzen genommen und dafür gesorgt, dass überall in der Provinz schön viel Platz geschaffen wurde. Alles wurde großzügig geplant: die Sportanlagen und Freibäder, die Autobahnen und Parkplätze, die Naturschutzgebiete und Landschaftsparks, die Neubaugebiete und Gewerbeflächen. Die Schulzentren wurden immer höher, die Jugendzentren bekamen immer modernere Ausstattungen, und die Einkaufszentren gingen in die Breite. Eine neue Provinz entstand, die sich selbst jetzt gerne „Region“ nannte. Diese Landschaft war nicht mehr idyllisch, aber dafür war sie auch nicht mehr von gestern.

Wir sind die Kinder dieser neuen Provinz. Wir haben gesehen, wie eine Umgehungsstraße nach der nächsten gebaut wurde. Wir haben gelernt, dass man auf die Natur gut aufpassen muss. Wir haben uns erklären lassen, dass man mit dem Wort „Heimat“ besser vorsichtig umgeht, um die bösen Geister der alten Provinz nicht zu wecken. Wir haben unsere Fahrräder vor den Garagentoren der Neubausiedlung abgestellt, auf die unsere Väter überall den gleichen roten Apfel gemalt haben, und wir haben gesehen, wie die Gartenzwerge angefangen haben, ironisch mit den Augen zu zwinkern. Wir haben unsere Brillen in der Fußgängerzone bei Fielmann gekauft und unsere Hamburger bei McDonald’s, und obwohl wir am Rand aufgewachsen sind, waren wir die ganze Zeit mittendrin – live dabei zuerst über Glasfaserleitungen und Decoder, später dann über das Internet. Hier draußen war man nicht länger von der Welt abgeschnitten.

Eine ganze Landschaft ist in Bewegung geraten. Wenn wir jetzt aus unseren Zugfenstern schauen, wechseln sich dort die Güterbahnhöfe mit den großflächigen Fahrzeugparks der Logistikunternehmen ab. In flachen Gebäuden verstecken sich Callcenter, daneben steht ein Hochregallager, in dem Roboter Waren in Container umladen. Zwischen den Hochspannungsmasten und Satellitenschüsseln vibriert die Luft.

Das Handy klingelt. Jörg ist dran. Er langweilt sich schon seit zwei Tagen mit seinen Eltern: „Vielleicht hätte ich doch zu Hause bleiben sollen.“ Zu Hause? In diesem Moment bremst der Zug ein wenig ab. Langsam, ohne anzuhalten, fährt er durch eine kleine Stadt. Der Platz vor dem Bahnhof ist leer, überall wird gebaut. Die Diskothek im alten Güterschuppen heißt „Mausefalle“, und ein Plakat kündigt an, dass hier in einer guten Woche eine „Mega Silvester-Party“ stattfindet, mit „Lebendem Büfett“ und Hardtrance-DJ. 25 Mark Eintritt. Der Zug wird wieder schneller. Ein Chinarestaurant in Pagodenform rauscht vorbei, genauso wie ein Landhandel mit verblasstem Schriftzug und eine Art Einkaufszentrum mit den bunten Reklamen von Schuhpark, McWash und Real. Das Gespräch wird unterbrochen: Provinz ist dort, wo es Funklöcher gibt.

Noch eine Autobahnbrücke, eine Bushaltestelle – dann lassen wir auch diese Stadt hinter uns. Die nächste wird genauso aussehen: mit modernen Reihenhausanlagen, deren Sonnenseite sich zur ICE-Trasse hin öffnet, und alten Dorfgebäuden, die sich mit schmutzigen Eternitplatten gegen den kalten Wind des Fortschritts schützen. Die neue Provinz ist die hässlichste Landschaft der Welt. Es müsste schon eine ganze Menge Schnee fallen, damit es in einer dieser Kleinstädte wenigstens zu dieser Jahreszeit beschaulich wirkt. Gut, dass es wenigstens Weihnachtsbeleuchtungen gibt.

Eigentlich könnte es uns natürlich egal sein. Schließlich sind wir nur zu Besuch hier. Das Schönste an der Provinz, in der wir aufgewachsen sind, ist, dass nicht nur Autobahnen, Zugschienen und Datenleitungen quer durch sie hindurchlaufen, sondern auch jede Menge Wege direkt aus ihr hinausführen. Man muss nicht Boris Becker sein, um einen Ort wie Leimen hinter sich zu lassen. Wir sind schließlich nicht mehr die Kinder von Landwirten, die den Hof ihrer Eltern übernehmen müssen. „Mach was draus“ heißt: Mach was – da draußen. Als wir gehen wollten, hat niemand versucht, uns aufzuhalten. Und tschüss: Studium, Zivildienst, Ausbildung, Au-pair, egal. Hauptsache weit weg.

Wir haben uns an jedem neuen Ort schnell eingelebt. Wir haben uns bemüht, die Provinz zu vergessen, und Anfang der Neunzigerjahre in Berlin und anderswo erst einmal „neues Leben“ gespielt. Wir haben uns verändert. Matthias geht nicht mehr in Diskos, sondern in Clubs. Jörg hat seinen alten Passat verkauft und nimmt den Flieger, wenn er es mal eilig hat. Kerstin wohnt in einer schicken Altbauwohnung zur Miete und hat keine Ahnung, was sie mit dem Bausparvertrag anfangen soll, den ihre Eltern vorsorglich vor zwanzig Jahren für sie angelegt haben. Wir haben gelernt, dass man statt Milchkaffee jetzt Latte Macchiato bestellt – und dass Heimat kein böses Wort ist, wenn man es „homezone“ schreibt. Wir haben Arbeit, Beziehungen und das Internet, um uns zu Hause zu fühlen, und wenn wir doch einmal eine melancholische Anwandlung verspüren, dann erinnern wir uns lieber an die Fernsehsendungen unserer Kindheit als an die Landschaft, in der wir aufgewachsen sind.

Trotzdem setzen wir uns jedes Jahr Weihnachten wieder in den Zug und treten zum Heimspiel an. Mal sehen, wer diesmal gewinnt.