Überhöhte Geschwindigkeit – die Disko

Tiefnächtliche Universen zwischen „Er gehört zu mir“ und Fury in the Slaughterhouse

Die Diskothek hieß Galaxy. Sie war im umgebauten Saal einer Dorfkneipe untergebracht. Auf das Dach war ein Scheinwerfer montiert, der in den Himmel zeigte. Mit ein bisschen Fantasie konnte man darin den Schweif des Kometen erkennen, der auf einem großen, handgemalten Schild über dem Eingang prangte. Die Kneipe gab es schon ewig. Jörgs Eltern zum Beispiel hatten sich dort kennen gelernt, als die Diskothek noch nicht Diskothek hieß, sondern einfach nur „Saalbetrieb“, und auch wenn der Name alle paar Jahre wechselte, war der Besitzer die ganze Zeit über wie selbstverständlich derselbe geblieben. Das Galaxy stand mehr oder weniger mitten auf dem Land. Zumindest in diesem Teil der Provinz legte man immer noch mehr Wert auf Traditionen als auf spektakuläre Neueröffnungen.

Showeffekten war man dagegen nicht abgeneigt. Den in der Höhe blasser werdenden Lichtstrahl des Scheinwerfers konnte man schon lange, bevor man da war, von der Landstraße aus erkennen, auch wenn niemand darauf angewiesen war. Jeder im Umkreis von fünfzig Kilometern wusste, wo das Galaxy lag. Es gab drei oder vier solcher Dorfdiskos in der Nähe der Stadt, und zog man die Bahnen weiter, wurden es immer mehr: Während in der Stadt höchstens ein paar späte Kneipengänger im kalten Licht der Straßenbeleuchtung nach Hause eilten, verwandelte sich die bei Tag so eintönige ländliche Umgebung in den Nächten in eine weitläufige Partylandschaft mit regem Verkehrsaufkommen und haarsträubenden Unfällen.

Jörgs Vater, in dessen Leben als Grundschullehrer es verhältnismäßig wenig Abwechslung gab, suchte montags und dienstags morgens beim Frühstück auf den vier sparsam bedruckten Seiten des Lokalteils immer zuerst nach Meldungen zu Unfällen, die sich am Wochenende ereignet hatten. Fast jede Woche hatte er Glück. „Wieder einer“, sagte er dann. Zufrieden schlug er mit der flachen Hand auf die Zeitung, so als ob nicht das Schicksal oder der liebe Gott über Leben und Tod entschieden, sondern die offizielle Statistik der Verkehrsunfälle im ländlichen Raum.

Die Zeitungstexte waren aus immer den gleichen Formulierungen zusammengesetzt. „In der Nacht von Sonnabend auf Sonntag“, „in den frühen Morgenstunden“, „überhöhte Geschwindigkeit“, „unter Alkoholeinfluss“, „voll besetztes Auto“, „schwer verletzt“ und manchmal: „Fahrer erlag seinen Verletzungen.“ Häufig gab es auch ein Foto des Unfallwagens, der mit eingedrückter Motorhaube und zersplitterten Scheiben vor einem Baum am Straßenrand stand, ein Totalschaden, wie es in der Bildunterschrift hieß, nur dass die Chromteile unter dem Blitzlicht glänzten wie bei einem Neuwagen. Jörgs Vater las die Meldungen vor, schenkte sich Kaffee nach und überlegte anschließend laut, an welcher Stelle der Umgehungsstraße oder einer der Landstraßen der Unfall sich ereignet haben könnte: „Ist ja auch eine gefährliche Kurve.“ Jörgs Mutter sagte: „Aber ihr fahrt vorsichtig.“ Jörg nickte.

Jörg war der Erste von uns, der ein eigenes Auto hatte, und er fuhr natürlich nicht vorsichtig. Am Freitag und Samstag saßen wir zu fünft in seinem alten Passat und klapperten jedesmal wieder die gleichen drei oder vier Diskotheken ab. Im Tunis zogen um drei Uhr morgens einige Jugendliche mit Palästinensertüchern ihre Schuhe aus und tanzten barfuß. Die Großraumdisko Airport lag am Rande eines Gewerbegebietes, hatte mehrere Tanzflächen, einen Raum mit Spielautomaten und gleich vier Scheinwerfer auf dem Dach. Im Merlin konnte man für zwei Mark Kroketten essen, und dort war jeden Freitag Hardrocknacht. Am Sonntag ging man ins Ufo, weil dort Independent lief und irgendjemand gehört hatte, dass sogar einige Studenten aus der nächsten größeren Stadt dorthin fuhren. Aber das war genauso ein Gerücht wie die Behauptung, dass im Tunis mit harten Drogen gehandelt wurde. Leider. Man fuhr trotzdem immer wieder hin und zog von einer Disko zur nächsten, bis man irgendwo Bekannte traf und hängen blieb.

Nur die drei oder vier Punks, Gothics oder sehr frühen HipHop-Fans, die es hier in der Gegend gab, nahmen die Mühe auf sich, etwas wählerischer zu sein. Sie fuhren weit, um ihre Musik zu hören und Leute zu treffen, die die gleiche Kleidung wie sie selbst trugen. Auf dem Land und in der Kleinstadt gab es nun einmal keine Szenen – nur Cliquen und außerdem jede Menge Leute, die man peinlich fand. Die peinlichsten Leute traf man im Galaxy.

Das Galaxy war das, was wir eine Bauerndisko nannten. Hier konnte man weder Drogen kaufen noch Barfußtänzer sehen, dafür gab es eine 25 Meter lange Theke und die billigsten Getränke in der gesamten Umgebung. Ein abgezäuntes Stück Wiese vor der Disko diente als Parkplatz. Im Licht einiger kräftiger Scheinwerfer, mit denen sonst die Landwirte der Umgebung ihren Hof beleuchteten, konnte man die Details der geparkten Wagen gut erkennen. Die Heckscheiben der Polos und Kadetts waren von Kenwoodaufklebern bedeckt, die Besitzer der Golfs und vor allem der Golf GTIs hatten ihre Wagen von oben bis unten mit Rallyestreifen verziert und so viele Spoiler und Schweller angeschraubt, dass die Autos durch die vielen Erweiterungen aus der Form geraten waren und kleinen Raumgleitern glichen. Auch der Opel Manta war zahlreich vertreten. Seine Besitzer bemühten sich ebenfalls, kein Klischee auszulassen. An den Antennen hingen Fuchsschwänze, und in jedem Auto gab es ein CB-Funkgerät und einen zusätzlichen Drehzahlmesser auf dem Armaturenbrett.

Wir amüsierten uns darüber, nachdem wir Jörgs alten Passat auf dem Parkplatz neben einem der aufgerüsteten Wagen abgestellt hatten, und ahnten nicht, dass wir einem Paradigmenwechsel beiwohnten. Als Ende der Achtzigerjahre die Witze über den Opel Manta in Mode kamen, fühlten sich die Fahrer eher bestärkt als verspottet: Die Mantapiloten wurden gemeinsam mit den GTI-Besitzern und allen anderen Kleinrennwagenbesitzern zur Avantgarde eines neuen provinziellen Selbstbewusstseins, Vorreiter einer neuen Heimatbewegung, die sich mit der neuen Provinz mehr als arrangiert hatte. Auf dem Parkplatz des Galaxy konnte man die Ersten dieser neuen Individuen sehen, die sich stolz dazu bekannten, in der peinlichsten Landschaft der Welt aufgewachsen und darum auch selbst peinlich zu sein. Immerhin waren sie meistens eher am Ziel als alle anderen: „Provinz ist, wo wir sind“ stand später auf den Aufklebern, die sie zwischen Spoiler und Ralleystreifen auf die Hecks ihrer Autos klebten.

Man müsste die Freunde der GTIs und Mantas wohl um die Klarheit dieses Statements beneiden. Damals haben wir uns lieber über sie amüsiert, und das Galaxy war genau der richtige Ort dafür. Betrinken konnte man sich dort nebenbei auch ganz gut. Man bezahlte am Eingang vier Mark, und dafür bekam man einen Getränkebon, den man an der Theke gleich gegen das erste Glas eintauschen konnte. Man trank Bier, Sekt und billige Longdrinks: Weinbrand Cola oder Southern Comfort mit Cola, und irgendwann, das war damals eine echte Innovation, gab es Red Bull mit Wodka – für sechs Mark. Das Preisleistungsverhältnis stimmte: Die Mischung wirkte schnell und intensiv. Überhaupt war das Besondere am Galaxy bis zuletzt, dass die Getränke hier besonders preiswert waren und es sogar Mengenrabatt gab. Für vierzig Mark bekam man eine Flasche Weinbrand und drei Flaschen Cola, für fünfzig Mark eine Flasche Whiskey plus Cola. Die Angebote wurden gerne angenommen.

Nachdem die Zahl der nächtlichen Verkehrsunfälle wieder einmal beträchtlich angestiegen war, hatte sich der Besitzer des Galaxy der Aktion „Saft Power“ der Polizei und des regionalen Gaststättenverbands angeschlossen. Er hatte sich gemeinsam mit anderen Diskobetreibern dazu verpflichtet, ein alkoholfreies Getränk anzubieten, das billiger war als das preiswerteste alkoholische Getränk. Apfelsaft kostete darum nur zwei Mark und wurde trotzdem von niemandem getrunken. Dafür diente eine Schautafel, die zu der Aktion gehörte und auf dem Gang zu den Toiletten aufgestellt worden war, der allgemeinen Belustigung. Die Hochglanzbilder von Verkehrsunfällen, die sich nach Diskobesuchen ereignet hatten, wurden von den Gästen fachmännisch beurteilt: „Japaner. Kein Wunder.“

Der DJ thronte über der Tanzfläche auf einer kleinen Bühne, zusammen mit zwei Helfern, die ihm die Platten anreichten und Musikwünsche entgegennahmen. Die Wünsche wurden allerdings meistens ignoriert, da die Mischung auf einem zerbrechlichen Gleichgewicht beruhte: zwei aktuelle Hits, zwei Oldies. Um Mitternacht, das gehörte dazu, grölte der DJ die Geburtstagsgrüße durch, die seine Gehilfen den Abend über gesammelt hatten: „Happy Birthday, Dörthe, jetzt bist du achtzehn. Fahr vorsichtig.“ Der Ratschlag lag nahe. Es gab hier eigentlich niemanden, der nicht bereits kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag die Führerscheinprüfung abgelegt hatte. Die Wege zwischen den Diskotheken waren lang.

Wir kamen uns im Galaxy wie Weltraumreisende vor, die einen fremden Planeten am äußersten Rand der Milchstraße besuchten. Es lief langweilige Musik, auf dem Männerklo hingen über den Pissoirs Bilder von nackten Frauen, und überall in der Disko waren Fernseher angebracht, auf denen ohne Ton die Nachtprogramme der Privatsender liefen: Werbung und Softpornos. Die Jungen trugen das Haar vorne kurz und im Nacken lang, Schnurrbärte waren durchaus verbreitet, und die Mädchen hatten Dauerwellen.

Es war eine durch und durch peinliche Inszenierung, aber das war uns nur recht. Im Galaxy konnten wir uns am deutlichsten davon überzeugen, dass wir anders waren und nicht hierher gehörten. Wir hatten andere Frisuren, pinkelten in den weiß gekachelten Gästetoiletten der Neubausiedlung im Sitzen, und wenn wir uns betrinken wollten, zogen wir uns dafür lieber in eine Hütte am Stadtrand zurück, wo es keine Zuschauer gab. Wir waren Fremde, und trotzdem blieben wir fast immer bis zum Schluss im Galaxy.

Morgens um fünf, wenn die Disko schloss, spielte der DJ jedesmal als Rausschmeißer einen Schlager, und auf der Tanzfläche sangen jetzt alle mit: „Er gehört zu mir …“ Der Abend war zu Ende. Wir standen an der Tanzfläche und gaben uns alle Mühe, auch dieses letzte Ritual noch peinlich zu finden. Es war Zeit zu gehen. Wir zwängten uns in den alten Passat, und irgendjemand murmelte etwas von „endlich anständige Musik hören“. Jörg legte eine Kassette von Fury in the Slaughterhouse ein, die damals noch so was wie ein Insidertipp waren. „This is not the time to wonder, this is not the time to die …“

Beinahe wären wir in dieser Nacht noch vom Gegenteil überzeugt worden. Als wir das Galaxy hinter uns ließen, schlief Jörg am Steuer einfach ein. Gerade hatte ich mich umgedreht und gesehen, wie der Strahl des Scheinwerfers auf dem Dach der Disko im Morgengrauen verblasste, da begann der alte Passat gefährlich zu vibrieren. Zwei Räder ratterten über den Seitenstreifen, die Bäume, die an der Seite standen, waren nur noch einen halben Meter entfernt. Im letzten Moment lenkte Jörg den Wagen zurück auf die Straße. Er sah in den Rückspiegel und sagte: „Nicht schlecht, wenn man das Adrenalin spürt.“

Alle nickten. Angst hatten wir keine gehabt. Wir waren ja nur zu Besuch auf diesen Straßen. Wir würden an einem anderen Ort leben, und wir würden auch an einem anderen Ort sterben.