Am Ende der Welt – die Bushaltestelle

Über dicke Eddingstifte, versengte Kaugummis, lange Sonntage und Bebauungspläne

Im Neubaugebiet hatte jede Familie ein oder zwei Autos, und die Kinder fuhren mit dem Fahrrad zur Schule. Die Bushaltestelle, die kurz hinter dem Neubaugebiet an einer schmalen Straße stand, wurde deshalb nicht mehr benutzt. Die kleine Tafel mit den Abfahrtszeiten und Haltestellen war längst abgeschraubt worden. Die Mühe, auch das kleine Wartehäuschen neben der Haltestelle abzureißen, hatte man sich allerdings nicht gemacht. Vielleicht hatte man es stehen gelassen, damit sich Radausflügler während eines Schauers unterstellen konnten. Schließlich regnete es oft genug.

Das Wartehäuschen sah aus wie einer der Verschläge, die hinter einigen Häusern im Wohngebiet standen und in denen Gartengeräte oder Brennholz für den Kamin aufbewahrt wurden – nur dass die Wände nicht aus Holz, sondern aus Beton waren. Zur Straße hin war das Häuschen offen, im Inneren stand eine grün lackierte Bank. Nachmittags saßen hier immer die drei gleichen Jungen. Sie hockten auf der Lehne, mit den Füßen auf der Sitzfläche, und rauchten Zigaretten. Ab und zu spuckte einer von ihnen auf den betonierten Boden. Sie waren dreizehn oder vierzehn, und sie kamen nicht aus dem Neubaugebiet, sondern gehörten zu einem der Bauernhöfe in der Nähe.

Die drei Jungen unterhielten sich nicht. Sie saßen einfach nur da, rauchten, als ob sie dafür bezahlt würden, und betrachteten die Spuckelachen vor ihren Füßen, die immer größer wurden. Nur wenn ein Auto vorbeifuhr, hoben sie die Köpfe und versteckten ihre Zigaretten in der hohlen Hand. Manchmal grüßten sie einen der Vorbeifahrenden auch lässig mit der freien Hand und schauten sich danach kurz so an, als ob gerade etwas Bemerkenswertes passiert sei. Ansonsten bewegten sie sich nicht.

Die Wände des Wartehäuschens waren von oben bis unten bekritzelt worden, und auf den ersten Blick sah es aus, als ob eine dichte Struktur ohne jedes Muster den Beton überzog. Erst wenn man näher herankam, löste sich die Fläche in Punkte und Striche auf, aus denen Buchstaben und Zeichnungen wurden.

Es waren immer die gleichen Bilder, in Blau oder Schwarz mit einem dicken Eddingstift gemalt. Zwei wellenförmige Linien, die nebeneinander von oben nach unten gezogen worden waren, ergaben zusammen mit zwei Kreisen und einem auf den Kopf gestellten Dreieck die Umrisse einer nackten Frau. Nackte Männer gab es nicht, nur ihre Geschlechtsteile, zwei Hügel und ein spitzer Berg, aus dem eine gestrichelte Linie herausspritzte. Manchmal sah man auch zwei Paar Beine, die ineinander verschränkt waren und neben denen „Ficken“ stand.

Ganze Sätze waren selten, nur die Feststellung, dass einer eine andere liebte oder irgendjemand schwul war, gab es häufiger. Beides war als Beleidigung gedacht. Außerdem las man gleich mehrmals den Satz „Ich war hier“ – allerdings ohne Namen und Datum. So wichtig war es wohl doch nicht gewesen.

Die drei Jungen wirkten inmitten dieser Umgebung gänzlich unbeteiligt. Sie schauten die Wände nicht an, und sie zogen auch nie einen Stift aus der Tasche, um irgendetwas an die Wand zu kritzeln. Sie rauchten, hielten nach Autos Ausschau, und ab und zu spuckten sie auf den Fußboden. „Das bist du“ stand hinter ihnen an der Wand, mit einem Pfeil, der auf ein Strichmännchen mit großen Ohren und abstehenden Haaren zeigte. Darüber schwebten dichte schwarze Wolken. Es waren Rußflecken, mit denen vor allem die Decke des Wartehäuschens übersät war. In den grünen Lack der Bank waren mit einer Zigarette Löcher gebrannt worden, die Blasen warfen. Am Rand der Sitzfläche klebten mit Feuerzeugen angesengte Kaugummis, in denen, wenn man genau hinschaute, noch die Abdrücke von Zähnen zu sehen waren.

Einmal im Jahr, wenn eines der orangefarbenen Autos der Stadtverwaltung an der Bushaltestelle hielt, verließen die drei Jungen ihren Platz gezwungenermaßen. Zwei Arbeiter strichen das Wartehäuschen mit weißer Farbe an. Auch die Bank wurde mit neuem grünen Lack überzogen. Das Wartehäuschen sah jetzt aus wie eines der hellen Häuser des Neubaugebiets. Strahlend hob es sich von der asphaltierten Straße und dem Gras der Weiden ab. Ein paar Tage später war es jedoch jedesmal wieder von oben bis unten mit Eddingstiften bemalt worden. Man hätte meinen können, die Zeichnungen und kurzen Sätze wären nie ausgelöscht worden. Die Bank hatte sogar wieder Brandlöcher, und die drei Jungen saßen entspannt auf der Lehne und rauchten. Es war wie Zauberei.

Tatsächlich war die Bushaltestelle so etwas wie ein magischer Ort. Hier konnte man noch die melancholische Grundstimmung erahnen, die man einst mit der Kindheit und Jugend auf dem Land verbunden hatte. Damals entzog man sich in Baumhütten und an versteckten Waldseen, geheimnisvollen Höhlen oder anderen von der Fantasie verzauberten Orten seiner Umgebung und verschwand für ein paar Stunden, einen langen Sonntag oder gar die ganzen Sommerferien in einer Traumwelt. Das Wartehäuschen mit seinen bis zur Unleserlichkeit bekritzelten Betonwänden, die an die tief eingeritzten Botschaften in Baumrinden erinnern, war ein letzter Überrest aus dieser Zeit: ein Ort, für den es in der Erwachsenenwelt keine Verwendung gab. Das war es, was die Provinz früher einmal ausgemacht hatte: Hier konnte man warten, ohne genau zu wissen, worauf man eigentlich wartete.

Doch das Wartehäuschen stand bereits im Grenzland zwischen der alten und der neuen Provinz, genau dort, wo die letzten Gärten des Neubaugebiets in den weiten Raum der ländlichen Umgebung übergingen. Eines Tages, es war Anfang der Achtzigerjahre, kam wieder einmal das Auto der Stadtverwaltung. Diesmal hatten die Arbeiter einen Presslufthammer mitgebracht. Das Wartehäuschen wurde abgerissen. Die Landwirte in der Umgebung hatten ihr Ackerland verkauft, und dort, wo die Haltestelle stand, wurde jetzt neues Bauland erschlossen. Die Landnahme ging weiter.

Einen Bebauungsplan gab es bereits, der mit seinen vielen kleinen Vermerken und Ergänzungen ein Stück der dicht bekritzelten Wand des Wartehäuschens hätte sein können. Die drei Jungen, die so geduldig darauf gewartet hatten, dass etwas passierte, sah man nie wieder.