Ein bisschen was dazugeschrieben

Von sexbesessenen Kindermädchen, resoluten Großmüttern und anderen Frauen: Der Theaterregisseur und Schriftsteller George Tabori erinnert sich in seinem erstaunlich kurzen Buch „Autodafé“ an ein langes Leben. Mahnmale sind für die Lebenden, schreibt Tabori, die Toten kümmern sie nicht

Groteskes Welttheater, aber immer geerdet im Hier und Jetzt einer jüdischen Familie

von THOMAS KRAFT

George Tabori gleicht einer lebenden Legende. Mittlerweile 88 Jahre alt, umweht den Regisseur und Autor eine würdevolle Aura. Die Wertschätzung seiner künstlerischen Arbeit gilt für Feuilleton und Publikum gleichermaßen; die Attribute, die seinen Stil zu charakterisieren suchen, erleben selten eine Auffrischung.

Bemerkenswert scheint dabei die Wahrnehmung seiner persönlichen Ausstrahlung: seine stattliche Erscheinung, das markante Gesicht, die ruhige Stimme, die listigen Augen. Nicht zuletzt spielen auch die Biografie Taboris und die Geschichte seiner Familie eine nicht zu unterschätzende Rolle im Kontext dieser Rezeption, die die ästhetischen Komponenten seiner Arbeit zu überlagern droht. Dass dabei viele Klischees fort- und festgeschrieben werden, erscheint dann fast erschreckend konsequent.

Eine Autobiografie böte die Chance, an diesem Bild zu rütteln, sich über die Geistlosigkeit der anderen zu mokieren und ihr etwas entgegenzusetzen. Nun liegen sie vor, die Erinnerungen des großen Theatermannes, „Autodafé“ betitelt, und Tabori spielt in gewohnter Manier mit den Erwartungen seines Publikums: „Ich habe keine Recherchen über meine Familie gemacht. Ich habe niedergeschrieben, woran ich mich erinnere und ein bisschen was dazu.“

Auf den ersten Blick ist man irritiert: ein schmaler Band, keine einhundert Seiten, auf fünf Kapitel verteilt, wenig für ein so langes, erlebnisreiches Leben. Schnell taucht man ein in die Welt der Donaumonarchie, wird gleichsam Zeuge, wie der junge Tabori in eine von Frauen beherrschte Welt hineingeboren wird. Alles ist da: Zeitkolorit und Familiengeschichte, Anekdote und Reflexion. Dicht miteinander verwoben, oft in Nebensätzen aufblitzend, mit wenigen lakonischen Sätzen das wiedergebend, wozu andere viele Seiten benötigen. Tabori erzählt aus seiner Kindheit und Jugend: vom Budapest des Jahres 1914, als er als Sonntagskind auf eine Welt kam, die in diesen Tagen den ersten großen Krieg zu führen begann. Und er endet mit dem Jahr 1932, als er als Hotelfachschüler in Berlin das Aufmarschieren der SA und den brennenden Reichstag miterleben muss.

Diese Aufzeichnungen sind notwendig Familien- und Zeitgeschichte zugleich, ein Dokument der Shoah und des aufkeimenden Nationalsozialismus. Bei aller Bitternis über das Schicksal seiner Familie, die in den Gaskammern von Auschwitz ums Leben kam, wird dieser Blick zurück wieder von jener Heiterkeit und sanften Melancholie, von der bekannt süffigen Schilderung und jenen selbstironischen Kommentaren geleitet, die die Lektüre zwar zu einem nachhaltigen Erlebnis machen, dem bekannten Lebensbild aber wenig Neues hinzufügen.

„Meine Erinnerung gibt nicht allzu viele Geheimnisse her, sondern stammelt und springt undeutlich hin und her“, schreibt Tabori. Und doch ziehen sich chronologische Linien durch dieses dichte Lebensgeflecht, beginnend eben mit den weiblichen Einflussnahmen in diesem „bilingualen Haushalt“, in dem eine resolute Großmutter und ein sexbesessenes Kindermädchen den Ton angeben. Wer kann schon von sich sagen, vom eigenen Bruder um ein Haar wie der biblische Moses den Donauwellen überantwortet und im zarten Alter von acht Jahren von einer lüsternen Alma auf dem Küchentisch entjungfert worden zu sein? Von dieser Art sind viele Episoden und Anekdoten. Haarsträubende Geschichten zum Teil, groteskes Welttheater, aber immer geerdet im gefährdeten Hier und Jetzt einer jüdischen Familie. Wenn zum Beispiel erzählt wird, wie die meist wortkarge Mutter sein Manuskript las, dabei den Kopf schüttelte und mit einem Seufzer sagte: „Im Viehwagen wurde ich nicht vergewaltigt“, dann vermischen sich tragische und komische Töne auf eindrucksvolle Weise. Tabori scheut das Drastische nicht, aber stets sind diese Erinnerungen von einem tief empfundenen Mitgefühl mit den ihm nahe stehenden Menschen geprägt. Mancher Alptraum und manches Schuldgefühl tauchen hier auf, freimütig und unretuschiert.

Aber Tabori schreibt auch, dass es „ein gutes Gefühl war, ein Fremdling zu sein in einer Welt, die ich nicht gemacht hatte“. Die Fuchtlosen, die dieser Welt die Stirn bieten, imponieren ihm, wie sein fantasiebegabter Bruder, der der Welt noch eine andere hinzudichtete, wie der Hotelier Kretschmer, der sechs kräftige SA-Leute kurzerhand aus seinem Restaurant warf, oder wie sein Vater, der den Misshandlungen der Nazis trotzte und in Auschwitz spurlos verschwand.

„Mahnmale sind für die Lebenden. Die Toten kümmern sie nicht“, heißt der vielleicht zentrale Satz in diesem Gedächtniswerk. So lebt, arbeitet und wirkt George Tabori weiterhin ganz in der Gegenwart. Darum versteht man auch, dass diese Memoiren, diese Berichte aus einer „fremden“ Welt, nicht umfangreicher ausfallen konnten. Ein bisschen liebt der „Fremdling“ Tabori diese Welt doch. Für Tabori aber gibt es offenbar noch zu viel zu tun.

George Tabori: „Autodafé. Erinnerungen“. Aus dem Amerikanischen von Ursula Grützmacher-Tabori. Wagenbach, Berlin 2002, 96 S., 15,50 €