Im Beiläufigen brillant

Ende der Fünfzigerjahre macht es in London an allen Ecken und Enden plötzlich Pop, Pop, Pop: „Blast to Freeze – Britische Kunst im 20. Jahrhundert“ gewährt im Kunstmuseum Wolfsburg den Überblick

Das Mächtige und Erhabene zählt zu den Dingen, die die Briten nicht so gut können

von ULRICH CLEWING

Dreiunddreißig Kilometer ist der Ärmelkanal an seiner engsten Stelle breit. Eigentlich keine große Entfernung, würde man denken. Wenn man dann aber einmal am Wasser steht und in die Ferne blickt, sieht die Sache schon ganz anders aus. Vor einem entweder eine weiße Wand (an Regentagen) oder das Meer, am Horizont nur Schiffe, sonst nichts (bei Sonnenschein). Vor einem das unendliche Vage, hinter einem vertrautes Land mit wenigstens festem Boden unter den Füßen, da fällt die Orientierung im Zweifelsfall nicht schwer. So druckte etwa die Times noch vor zwanzig Jahren Nachrichten aus „Europe“, also Frankreich, Deutschland, Spanien usw. im Ressort „Overseas“, wo auf einer Seite täglich außerdem über interessante Geschehnisse aus Afrika, dem amerikanischen Kontinent und Asien berichtet wurde. Der Gerechtigkeit halber soll allerdings doch erwähnt werden, dass die Times zu den ganz wenigen Zeitungen gehörte, die überhaupt ein Ressort „Overseas“ hatten.

Heute hat sich da natürlich einiges verändert. Heute gehen den Reportern der BBC Namen wie Gerhard Schröder oder Jürgen Trittin in Originalbetonung über die Lippen, und auch sonst werden immer wieder Anstrengungen unternommen, die Distanzen nicht zu groß werden zu lassen. Das aufregendste Beispiel hierfür ist derzeit in der verkehrsgünstig gelegenen Provinz zu besichtigen, in Wolfsburg, im dortigen Kunstmuseum: Mehr als dreihundert Werke von einhundert Malern und Bildhauern haben der Direktor des Kunstmuseums, Gijs van Tuyl, und der Londoner Kurator Henry Meyric Hughes zusammengetragen, um einen Überblick über ein Jahrhundert britische Kunst zu ermöglichen. Damit ist „Blast to Freeze – Britische Kunst im 20. Jahrhundert“ die umfangreichste Ausstellung ihrer Art, die in Deutschland je stattgefunden hat.

Ein vergleichbares Unternehmen hatte es 1985 gegeben, nur in umgekehrter Richtung. In der Royal Academy in London (und später in der Staatsgalerie Stuttgart) wurde „Deutsche Kunst von 1905 bis 1985“ gezeigt. Die Ausstellung damals vermittelte den Eindruck, dass die deutschen Künstler daheim und dann im Exil speziell in der ersten Hälfte des Jahrhunderts besonders stark waren, während nach dem Zweiten Weltkrieg über weite Strecken gepflegte Langeweile herrschte.

Bei den Briten ist nun das exakte Gegenteil der Fall. Sicher brachte die Insellage für Großbritannien in vielerlei Hinsicht großen Nutzen, was allerdings die Verbreitung der modernen Kunst betrifft, so war die Isolation anfangs nicht unbedingt von Vorteil. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Paris das unbestrittene Kunstzentrum der westlichen Welt, mit Subzentren in Berlin und Turin, aber nicht in London. Jedenfalls merkt man den frühen Arbeiten in der Ausstellung deutlich an, dass sie Vorbilder haben, an deren Kraft und Selbstständigkeit sie nicht heranreichen.

Der Rundgang setzt ein mit der Gruppe der Vortizisten (von vortex: Strudel oder Wirbel) um den Maler und Schriftsteller Percy Wyndham Lewis. Lewis, 1882 angeblich auf einem Schiff vor der Küste Kanadas geboren (andere Quellen sprechen vom Städtchen Amherst in Neuschottland), war unter anderem Herausgeber der Zeitschrift Blast und veröffentlichte dort in der Nummer vom Juni 1914 ein Pamphlet, das in Ton und Haltung stark an Filippo Tommaso Marinettis fünf Jahre zuvor im Pariser Le Figaro abgedrucktes erstes „Manifest des Futurismus“ erinnerte. Darin forderte Lewis dazu auf, die „Existenz der Vergangenheit“ zu vergessen, „die Revolution“ in Kunst und Gesellschaft vorzubereiten und sich zu der einen, der einzigen Wahrheit zu bekennen, zu „uns selbst, und alles ist erlaubt“.

Lewis’ Werke blieben dann freilich hinter den starken Worten ein wenig zurück. 1912 hatte er die in London heftig diskutierte Ausstellung „Works by italian Futurist Painters“ besucht. Doch die Bilder, die er danach malte, wirken merkwürdig matt und epigonal, wie die Kopien eines bemühten Strebers, dem nichts Eigenes gelingt und der sich deshalb aus Angst, etwas falsch zu machen, nur umso getreuer an den Originalen orientiert. Und das lag nicht nur daran, dass er diese lediglich aus zweiter und dritter Hand kannte.

Es ist ja gerade eines der Merkmale einer Überblicksausstellung wie „Blast to Freeze“, dass einem dort nicht nur einzelne Künstler begegnen, sondern man auch die großen Entwicklungslinien nachvollziehen kann. Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren die Jahrzehnte der Weltanschauungen, der Ideologien, mächtigen Ideen und des erhabenen Unkonkreten. Wenn man nun in Wolfsburg durch die ersten Räume schlendert, drängt sich der Eindruck auf, dass das Ideologische, Mächtige und Erhabene zu den Dingen zählt, die die Briten nicht so gut können. Denn die Schwäche, die man den Vortizisten attestieren muss, ist ein, zwei Jahrzehnte später auch bei Surrealisten wie Graham Sutherland, Conroy Maddox, John Tunnard oder Merlyn Evans zu bemerken. Auch hier schaut man in die Runde und sieht leider doch nur recht schlaffe, akademische, bemüht-gewollte Arbeiten, die eher dem Klischee vom Surrealismus entsprechen, als ihm etwas Neues, Eigenes hinzuzufügen. Vielleicht waren die Briten zu sophisticated, das Ganze zu durchdacht und konstruiert, um jene Unmittelbarkeit herzustellen, welche bleibend große Kunst gemeinhin charakterisiert.

Das Gleiche gilt auch noch für die Künstler, die sich direkt nach dem Zweiten Weltkrieg der Farbfeldmalerei und dem abstrakten Expressionismus widmeten. Die Bilder von Patrick Heron, William Scott und Adrian Heath wirken wie von Barnett Newman oder Mark Rothko kopiert (Ausnahmen bestätigen die Regel: Peter Lanyon oder Victor Pasmore stechen hier deutlich aus dem Brei der Zweitklassigkeit heraus). Und dieses Urteil ergibt sich nicht nur aus dem zeitlichen Abstand heraus: Es ist schon bezeichnend, dass ein Bildhauer wie Henry Moore auf dem Höhepunkt seiner Karriere mit seinen großen Bronzeskulpturen auf dem „Kontinent“ weitaus beliebter und erfolgreicher war als in seinem Heimatland. Für Henry Moore haben sich die Ausstellungsmacher im Übrigen etwas besonders Schönes einfallen lassen. In einem der vom Londoner Architekten David Chipperfield sehr ansprechend gestalteten Räume liegen in Vitrinen Dutzende von Fundstücken – seltsam geformte Steine, Äste und Glasscherben, die Moore als Inspiration in seinem Atelier aufbewahrte. Hier kann man sehr gut sehen, wie die Zufallsfunde Moores biomorphe Plastiken beeinflussten.

Die wirklich große Zeit der britischen Kunst sollte erst noch kommen, dann aber mit überwältigender Macht und wundervoller Eigenart. Denn diese Ausstellung zeigt nicht nur, was die Briten nicht so gut können, sondern selbstverständlich auch, worin sie brillieren: im Beiläufigen nämlich, im Unprätentiösen, Pragmatischen und Naheliegenden. Ende der Fünfzigerjahre fängt es in London an, an allen Ecken und Enden Pop, Pop, Pop zu machen.

Peter Blake, der fünfzehn Jahre zuvor noch in surrealistisch angehauchter Manier die verstörenden „Children reading Comics“ auf die Leinwand brachte, malt jetzt die Beatles und wird durch sein Cover für Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band in Kreisen bekannt, die Museen und Kunstgalerien nur von außen kennen. David Hockney und R. B. Kitaj verwandeln Alltäglichkeiten in aufregend-kryptische Gemäldecollagen. 1972 gehen die jungen Gilbert und George in ihre Stammkneipe, um ein bisschen herumzufotografieren, und schaffen so nebenbei eines ihrer Schlüsselwerke. Andere entdecken die Natur und widerlegen die These, dass Briten nicht romantisch sind. Denn das sind sie sicher, nur hat ihre Romantik so gar nichts Überwältigendes und Erhabenes, was ein sehr angenehmer Zug ist und Wynton Lewis’ Verdikt, Briten „sollten nicht romantisch sein“, Lügen straft. Richard Long macht einen Spaziergang, sammelt ein paar Steine auf und legt sie zu einem Kreis zusammen. Michael Craig-Martin stellt ein Wasserglas auf ein durchsichtiges Badezimmerregal und nennt es einen „Eichenbaum“.

Tony Cragg sammelt Plastikmüll oder kauft im Baumarkt ein und bastelt daraus seine verblüffenden Ready-Made-Skulpturen. Die Aufzählung könnte noch endlos weitergehen und jedes einzelne Beispiel wäre ein weiterer Beleg dafür, dass die letzten vierzig Jahre in der internationalen Kunstszene den Briten gehörte. Dabei sind die großen Maler-Stars wie Lucian Freud und der 1992 verstorbene Francis Bacon in „Blast to Freeze“ noch nicht einmal besonders vertreten – bei den vier, fünf Einzelausstellungen pro Jahr, die ihnen in aller Welt ausgerichtet werden, waren Bilder von ihnen in größerer Anzahl schlicht nicht zu bekommen.

Anfang der Neunzigerjahre endet der chronologische Rahmen der Ausstellung. Die Young British Artists, deren Geburtsstunde 1988 die Ausstellung „Freeze“ war, wurden bewusst ausgelassen. Nur Damien Hirst ist mit einer Arbeit vertreten. Sie stammt aus dem Jahr 1990 und heißt „A hundred Years“: eine gläserne Box mit handelsüblicher Fliegenfalle darin, ein ebenso ergreifendes wie banales Memento Mori, das so hervorragend zu diesem Panorama des kurzen Jahrhundert britischer Kunst passt, als wäre es extra dafür gemacht.

Bis 19. Januar, Katalog (Hatje/Cantz Verlag) 49,80 €