Freispruch in Moskau

aus Moskau BORIS SCHUMATZKY

Vordergründig war es ein Beleidungsprozess. Anlass war ein taz-Artikel im Mai 2001 über den Beginn eines Personenkults um den russischen Präsidenten Putin. In ihm hatte unser Moskauer Korrespondent Klaus-Helge Donath eine Ode des Studenten Michail Anischtschenko auf den Präsidenten zitiert. Der klagte. Seine Ehre sei gekränkt. Nach mehrfachen Verschiebungen kam gestern die Verhandlung zustande. Die Klage wurde abgewiesen. Beim Beklagten und seinen zahlreich erschienen Kollegen herrschte Erleichterung: „Ein Erfolg der Klage hätte die Arbeit ausländischer Journalisten in Russland und russischer Journalisten im Ausland unmöglich gemacht“, sagte der Sekretär des russischen Journalistenverbandes, Pawel Gutiontow. Denn das Verfahren hatte durchaus einen politischen Hintergrund.

Der beleidigte 25-Jährige forderte nicht nur eine Berichtigung in der taz. Das Gericht sollte auch das russische Außenministerium dazu auffordern, Klaus-Helge Donath nicht bloß seine Akkreditierung zu entziehen, sondern seinen Aufenthalt in der Russischen Föderation zu verkürzen. Seine Forderungen begründete Anischtschenko mit der Behauptung, nicht bloß er, auch Präsident Putin höchstpersönlich sei vom deutschen Korrespondenten diffamiert worden. Noch vor Beginn der eigentlichen Gerichtsverhandlung hatte der Kläger seine finanziellen Forderungen zurückgenommen. Ursprünglich wollte er ein Schmerzensgeld von 300.000 Rubel, umgerechnet ca. 10.000 Euro.

Seinen Versuch, dem Prozess eine politische Wendung zu geben, bekräftigte Anischtschenko in der gestrigen Verhandlung vor dem Moskauer Gagarin-Gericht gerade mit seinem Verzicht auf finanzielle Forderungen. Die Zeitung, so Anischtschenko, habe vor kurzem ein Interview mit dem tschetschenischen Politiker Achmed Sakajew veröffentlicht, der von den russischen Behörden als Terrorist gebrandmarkt wird. Von dem Geld, das mit solch amoralischen Publikationen verdient werde, wolle der junge russische Patriot nichts haben.

Die Empörung Anischtschenkos liegt ganz im neuen Trend der Kremlpolitik. Nach der gewaltsamen Befreiung der Geiseln im Moskauer Theater „Nord-Ost“ wurde eine Reihe von Gesetzeserweiterungen und Vorschriften für die Presse erlassen, die fast jede Art Berichterstattung über die so genannte „Antiterroroperationen“ unmöglich macht und unter anderem alle Interviews mir denjenigen verbietet, die von Behörden als Terroristen bezeichnet werden. Dieses Verbot gilt natürlich nicht direkt für die ausländische Presse. Hätte das Gericht der Klage stattgegeben, wäre es ein Warnschuss für andere Auslandskorrespondenten in Russland gewesen.

Die Entwicklung des Falls legt die Vermutung nahe, dass hinter der Anklage viel mehr als bloß die gekränkten Ambitionen eines Provinzlers steckt. Der Verteidiger Donaths, Rechtsanwalt und Bürgerrechtler Genry Reznik brachte es so auf den Punkt: „Anischtschenko wird von anderen Kräften als Instrument“ missbraucht. Als der Student aus Tscheljabinsk vor über einem Jahr seine erste Klage eingereicht hatte, forderte er eine Berichtigung und das Schmerzensgeld. Einige Monate später veränderten sich seine Forderungen radikal. Seine zweite Klageschrift las sich wie ein Gerichtsurteil aus der Sowjetzeit. Auf drei dicht bedruckten Seiten wird ausgeführt, dass der taz-Korrespondent seinen Artikel mit der Absicht geschrieben habe, einen Bürger der Russischen Föderation und seine patriotischen Gefühle zu kompromittieren. Schließlich folgt die Behauptung, Donath habe die Redefreiheit missbraucht, um den Präsidenten Russlands zu beleidigen.

Eine Reihe von Ereignissen führte zu dieser neuen Anklage. Die patriotische Präsidentenode ist auch im Kreml nicht unbekannt geblieben. Das Regierungsblatt Rossijskaja Gazeta widmete Anischtschenko einen ausführlichen Artikel, wo der inzwischen frisch diplomierte junge Jurist zum einsamen Helden im Kampf für die Ehre Russlands stilisiert wurde. In seinem Fall, betonte die Regierungszeitung, gehe es auch um die Ehre „unseres Präsidenten“, der die Kassette mit Vertonung des Lobgesangs persönlich erhalten habe. Nachdem die damalige Rechtsanwältin der taz diesen Artikel gelesen hatte, gab sie den Fall sofort auf. Mit einem politischen Prozess wollte sie offenbar nichts zu tun haben.

Der neue Anwalt Reznik verdankt seinen Namen vornehmlich Menschenrechtsprozessen und der Verteidigung der Pressefreihei. Prozesse, die sich in den letzten Jahren in Russland wieder häufen. Immer öfter enden sie mit harten Urteilen gegen Journalisten, Bürgerrechtler oder Umweltschützer. Diese Tendenz versprach nichts Gutes. Als Anischtschenko vor der zweiten Verhandlung in einer Limousine mit behördlichem Kennzeichen vor dem Gerichtsgebäude vorfuhr, fühlte sich mancher in seinen Zweifeln an der Unabhängigkeit des Klägers bestätigt. Damals wurde die Verhandlung erneut vertagt.

Gestern kam der Kläger Anischtschenko zu Fuß zum Gerichtsgebäude. Das war das erste Anzeichen dafür, dass der Fall diesmal wieder eine andere Qualität erhielt. Die Korrespondenten der russischen und ausländischen Medien passten kaum in den kleinen Saal des Gagarin-Gerichts. Diese Solidaritätsbekundung der Presse und die Rücksicht auf die Öffentlichkeit – vor allem im Westen – waren vermutlich Anlass, den Fall wieder zu dem werden zu lassen, was er eigentlich von Anfang an hätte sein sollen: Die Verhandlung gekränkter Ambitionen und absurder Beschuldigungen eines werdenden Dichters. Jetzt, da der Kreml um die Anerkennung europäischer Partner ringt und sogar leise Kritik an seiner Tschetschenienenpolitik einstecken muss, wäre noch ein Skandal in Sachen Pressefreiheit nicht nach seinem Geschmack. Kläger Anischtschenko schließt eine Berufung gegen das Urteil nicht aus.