EINE EU-VERFASSUNG, DIE SICH AUF DAS RELIGIÖSE ERBE BERUFT, GRENZT AUS
: Ohne Gott geht’s besser

Was hat Gott in der Verfassung zu suchen? Überhaupt nichts. Die Werte, auf denen die Verfassung ruht, ergeben sich aus juristisch klar umrissenen Definitionen der Institutionen und ihrer Wirkungsweise sowie aus dem Katalog der Grundrechte. Die Anrufung Gottes in der Präambel des Grundgesetzes („Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“) hat zwar die Qualität eines Rechtssatzes – weshalb sie entfernt werden sollte –, aber welche rechtlichen Konsequenzen aus dieser „Verantwortung“ folgen, weiß keiner und will auch keiner wissen. Andere supralegale Bestimmungen wie die für die Freiheit der Person vorgesehene Schranke des „Sittengesetzes“ in Art. 2 des Grundgesetzes werden mittlerweile unter die „verfassungsmäßige Ordnung“ subsumiert, also unter einen durch die Rechtsprechung klar definierten Begriff. Was für Gott gilt, gilt auch für die diversen Stammbäume der europäischen Kultur, also das jüdisch-christliche, das antike und das aufklärerische Erbe. Solche Stammbäume in Verfassungen sind überflüssig (weil sich die positiven Elemente dieses Erbes im geltenden Verfassungsrecht finden) oder substanzlose Behauptungen.

Jetzt droht sich die Auseinandersetzung um die Anrufung Gottes (invocatio dei) und die Rhetorik des Erbes auf europäischer Ebene fortzusetzen. Schon bei der Europäischen Grundrechtscharta wurde vor allem seitens deutscher christdemokratischer Eiferer heftig für Gott in der Präambel geworben. Der Streit hierüber brachte das Unternehmen an den Rand des Scheiterns und führte kurioserweise zu zwei Textvarianten: einer deutschen, die Gott erwähnt, und einer französischen, die sich mit der Ethik bescheidet.

Gestern nun unternahm die christlich-konservative Europäische Volkspartei (EVP) einen erneuten Vorstoß, zunächst im Europaparlament. Außer einem Passus, der in der Präambel das verpflichtende religiöse Erbe erwähnt, enthält der Entwurf auch ein Kapitel zu Zielen und Werten. Es heißt dort: „Die Werte der Union schließen die Werte derjenigen ein, die an Gott glauben als Quelle von Wahrheit, Gerechtigkeit, Güte und Schönheit sowie diejenigen, die einen solchen Glauben nicht teilen und sich beim Respekt universeller Werte auf andere Quellen stützen.“

Dieses Satzmonstrum riecht nach Kompromiss, nach zähem Ringen. Tatsächlich ist es wörtlich der polnischen Verfassung entnommen. Bei der polnischen Verfassungsdiskussion stand damals die links-laizistische Parlamentsmehrheit unter starkem Druck des Episkopats und der nationalistisch-klerikalen Kräfte. Der aufgeklärte Katholik Tadeusz Mazowiecki, der schließlich die im Volksentscheid knapp angenomme Kompromissversion vorgeschlagen hatte, sah sich massiven Vorwürfen der Rechten ausgesetzt. Gott und die Heilige Jungfrau Maria sollten schließlich nach Meinung der Gotteskrieger das Unterpfand dafür sein, dass die wieder erstandene Republik Polen ihrer traditionellen Funktion als christlicher Schutzwall gegenüber dem gottlosen Osten nachkommen konnte.

Warum diese innenpolitischen Rücksichten geschuldete Kompromissformel zur Grundlage eines europäischen Verfassungsentwurfs machen? Zwar ist in einigen EU-Verfassungen, beispielsweise der griechischen und – small wonder – der irischen, massiv von der „Heiligen Dreifaltigkeit“ die Rede, von Gottes Allmacht und ähnlichen letzten Dingen, aber die Regierungen dieser Länder sind mit höchst irdischen Problemen beschäftigt – vor allem auf der Ebene des Ministerrats. Dort hätten die Gott und den Werten gewidmeten Passagen des Entwurfs nicht den Schatten einer Chance.

Dennoch lohnt die Kritik. Der EVP-Entwurf speist sich aus dem Verlangen, einen europäischen Wertekanon gleich einer Monstranz vor sich herzutragen. Dieser Durst nach Wertegemeinschaft (auch die Nato will sich unbedingt auf Werte gründen) hat seine Ursache nicht in einem Bekenntnis zur universellen Geltung von Demokratie und Menschenrechten. Er entspringt vor allem dem Wunsch nach Abgrenzung. Was man hat, das hat man schließlich, und zwar als Europäer. Als Erbe, eingeschreint, frei von Zweifel, von der Offenheit fürs Neue, von kritischer Selbstreflexion. Hinter dem wahrscheinlich kurzlebigen EVP-Vorstoß zugunsten Gottes steht eine Politik der Ausgrenzung und Abschottung. Die gilt es zu bekämpfen.

CHRISTIAN SEMLER