Das britische Besenhandwerk floriert

Armer Harry, braves Kind. Auf Traditionen wird geachtet und auf Britishness: „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“ ist so gruselig wie der Roman und von Ambivalenzen frei. Ungebrochen ist der Erfolg von artverwandten Produkten

Kitsch am Schluss – das reicht nicht, das „Harry Potter“-Prinzip zu brechen

von PETRA KOHSE

„Sie tun alles, um die Zauberei zu übersehen“, sagt Arthur Weasley im zweiten „Harry Potter“-Band über die Muggel, „selbst wenn sie ihnen ins Gesicht springt.“ Weasley, der im Ministerium für Zauberei als Fachmann für widerrechtlich verzauberte Gegenstände arbeitet, hat Recht. Keiner von uns nicht mit Magie begabten Menschen denkt daran, dass ein spurlos verschwundener Schlüssel mit einem Schrumpfzauber belegt gewesen sein könnte. Oder hält eine durch die Luft fliegende Torte für die Tat eines Hauselfs, den der im Türrahmen stehende Neffe vergeblich zurückzuhalten versucht hat.

Einen Umstand aber gibt es, der selbst die verstocktesten Zaubereileugner allmählich in Erklärungsnot bringt, und das ist der umfassende und fortgesetzte Erfolg von Joanne K. Rowlings „Harry Potter“-Büchern selbst. Jeder, aber auch jeder, der mit dem Stoff in Kontakt kommt, kann offenbar sein Glück damit machen. 175 Millionen Exemplare der auf sieben Folgen angelegten und bereits vier Bände umfassenden Fantasy-, Internats- und Krimiserie wurden seit 1997 weltweit verkauft. Es gibt „Harry Potter“ als Hörbuch, Brettspiel, Quiz, Computerspiel, Gummifigur, in Lego oder auf Bettwäsche.

Die Verfilmung des ersten Teils hat Warner Bros. 12,3 Millionen Besucher sowie 990 Millionen Euro eingebracht, und der jetzt angelaufene zweite Film wird diese Ergebnisse übertreffen. Trotz seiner Allgegenwart bleibt der Waisenknabe Harry nämlich auch im Jahre fünf nach seiner Veröffentlichung ein Sympathieträger, dem zuverlässig Publikum nachwächst, während die Größeren auf Augenhöhe bleiben können.

Wie traditionsbewusst die Parallelwelt ist, in der er das Zauberergymnasium Hogwarts besucht! Wie zunehmend komplex, aber trotzdem stets dechiffrierbar das Böse, das er Schuljahr für Schuljahr zu bekämpfen hat! Und wie gleichbleibend dummdreist die Muggelverwandtschaft, zu der er in den Ferien regelmäßig zurückkehren muss! Stabilität und Progression sind gut abgemischt in diesen Folgen, und längst hat sich erwiesen, dass Harrys auf vielen Ebenen auszudeutende Abenteuer nicht nur international und branchenübergreifend anschlussfähig sind, sondern in ihren Auflösungen auch generationsübergreifende Sehnsüchte markieren.

Joanne K. Rowling, in der Zeit vor Harry eine mittellose Alleinerziehende, agiert inzwischen als patente Topverdienerin. Die in Edinburgh und London lebende Autorin wacht über die ausreichende Britishness der Vermarktung ihres Figurenimperiums, engagiert sich karitativ, hat soeben den fünften Band fertig gestellt („Harry Potter and the Order of the Phoenix“) und organisiert sich – während es unsereiner nach der Arbeit oft nicht mal zum Sport schafft – nebenbei noch ein üppiges Privatleben. Die neunjährige Tochter wächst in Ruhe auf, letzten Dezember wurde eine zweite Ehe geschlossen, und augenblicklich ist Joanne K. Rowling im fünften Monat schwanger.

Auch an den Rändern ist so etwas wie ein Objektzauber spürbar. Artverwandte Literatur wird nach vorne katapultiert, die Bücher von Philip Pullman, Eoin Colfer, Pat O’Shea, C. S. Lewis und Tolkien. Das britische Besenhandwerk floriert, weil zum Quidditchspielen Reisigwaren gebraucht werden. Die an der Grenze zu Schottland gelegene Stadt Alnwick, der Drehort der Hogwarts-Szenen, wurde als der Platz ermittelt, an dem die derzeit höchste Lebensqualität Großbritanniens herrscht. Und Saskia Preißner, die Vorsitzende des 140.000 Mitglieder umfassenden Berliner „Harry Potter“-Fanclubs, ist mit 16 Jahren bereits ein Öffentlichkeitsprofi.

Letzte Nacht nun, als Punkt null Uhr eins die deutsche Fassung von „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“ in 1.200 Kinos anlief – in Großbritannien und den USA startet der Film erst morgen –, befand sich Saskia Preißner angekündigtermaßen im Berliner Zoopalast. Sie erwartete, wie sie zuvor dpa mitteilte, vom zweiten Film „mehr“ als vom ersten. Zu Recht, wie die Filmbewertungsstelle Wiesbaden urteilte, die das Warner Bros.-Großprojekt unter der Regie von Chris Columbus als „wertvoll“ einschätzt: „Dem zweiten Teil des Welterfolges gelingt es mühelos, noch spannender, gruseliger und witziger zu sein, und er besticht vor allem durch atemberaubende Tricktechnik.“ Sagen wir es so: Der zweite Film ist spannend, gruselig und witzig, genauso wie das Buch. Wobei der Reiz des Buches nur zum Teil darin besteht, spannend, gruselig und witzig zu sein, der des Films aber ausschließlich.

Zu Beginn von „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“ befindet sich Harry bei seinen Muggel-Verwandten, den Dursleys. Sie hassen das Zaubererkind und tun alles, um ihn zu demütigen, während sie ihren fehlernährten Sohn Dudley (Harry Melling) verhätscheln. Herrlich fette Grotesken hat Rowling gezeichnet, in denen sich Richard Griffiths und Fiona Shaw im Film wonniglich aalen. Anders als im Buch jedoch darf ihnen Harry Potter (Daniel Radcliff) kein Gegenüber sein. Er duckt sich bloß weg, statt seinen schwachsinnigen Cousin unauffällig zu malträtieren. Chris Columbus liebt das Klare: Armer Harry, braves Kind.

Auch sonst gab es im ersten Film mehr Spielräume für Nuancen und erzählerische Ruhe. Jetzt steuert alles schnurgerade auf den jeweils nächstgelegenen Gut-Böse-Kern zu. Eisige Verachtung verströmen die rassistischen Malfoys, Vater Lucius (Jason Isaacs) und Sohn Draco (Tom Felton). Die reine Arroganz verkörpert Tom Riddle (Christian Coulson), die Jugendausgabe des späteren Dunkelfürsten Voldemort. Wie licht und lieb, tröstlich und weise dagegen die Guten: Schulleiter Albus Dumbledore, den der im Oktober verstorbene Richard Harris mit gütigem Lächeln hintuscht, oder die siebenköpfige Familie Weasley, in der sich der elternlose Harry geborgen fühlt und deren rothaarige Armut deswegen für die einzigen Bilder zauberischer Folklore herhalten muss.

Die Weasleys befreien Harry aus dem Haus der Dursleys mit Hilfe eines fliegenden Autos. Bei ihnen verbringt er die letzten Ferientage, und gemeinsam mit seinem Freund Ron (Rupert Grint) verpasst er den Zug nach Hogwarts, weil Dobby, der versklavte Hauself der Malfoys, ihn in lebensretterischer Absicht daran zu hindern versucht, ins Internat zurückzukehren. Dobby ist im Film bewundernswert gelungen. Ein komplett computergenerierter, kniehoher, schmutzigrosa Spirrel mit großen Füßen, spitzen Schlappohren, rührenden Glubschaugen und boshaft spitzer Rüsselnase. Als einzige Figur im ganzen Film ist dieses zaubermächtige, aber geknechtete Wesen ambivalent – nein, nicht als einzige: bei Aragog, der Monsterspinne im Verbotenen Wald, zu der sich Harry und Ron durchschlagen müssen, weiß man auch nicht gleich Bescheid.

Spinnen also, Rassismus, ein Geist im Mädchenklo und ein schlangenartiges Wesen in den Rohren, sowie ein tadellos geföhnter Kenneth Branagh in der Rolle des vor Eitelkeit gebauschten Frauenschwarms Gilderoy Lockheart. Mehr soll nicht verraten werden. Nur dass sich Sechsjährige den Film entgegen der Freigabe durch die FSK definitiv nicht ansehen sollten und alle anderen kalt oder dämmrig beleuchtete, stets kathedralenartig ausgestattete Bedrohtheits- und Actionszenen zu gewärtigen haben. Wobei die Fülle der Detailsichten, Nah-, Unter- und Aufsichten schon ankündigt, dass sich die Sache auflöst, wenn man erst das Ganze in den Blick bekommt.

Der Film endet mit einem von tausend fliegenden Kerzen illuminierten Applaus der in der Großen Halle versammelten Schüler- und Lehrerschaft für Harry und seine Freunde Ron und Hermine (Emma Watson), die – Kinder an die Macht! – zum zweiten Mal Tod und Verderben abgewendet haben. Das Buch hingegen schließt mit der Rückfahrt am Schuljahresende. „Dein Onkel und deine Tante werden doch sicher stolz sein, wenn sie hören, was du dieses Jahr getan hast?“, sagt Hermine zum Abschied. „Stolz?“, antwortet da Harry. „Bist du verrückt? Wo ich doch so oft hätte sterben können und es nicht geschafft habe? Die werden sauer sein …“

Genrebedingte Reibungsverluste? An Schlussverkitschung litt auch der erste Film. Dieser jetzt zusätzlich an Geradlinigkeit. Beides reicht nicht, um das „Harry Potter“-Prinzip zu brechen. Zu viele sind inzwischen davon erfasst. Wenn im April der fünfte Band erscheint, haben die Dreharbeiten für den dritten Film schon begonnen. To be continued ist des Zaubers Kern, und wer ausreichend innere Beständigkeit vorweisen kann, um an dieser Produktform nicht teilhaben zu müssen, der werfe den ersten Stein.