Das Ende zahlreicher Räusche

Bürgerliche Gleichheit erreicht die Republik über Steuern – dies ist ein Grundsatz des demokratischen Staatswesens. Der europäische Sozialstaat hat das nie berücksichtigt

Wer im Skiurlaub verunglückt und dafür das Solidarsystem in Anspruch nimmt,handelt asozial

Ein Fundamentalsatz aus der Gründungszeit des demokratischen Staatswesens: In der Republik werden die Kosten für die soziale Solidarität über Steuern geregelt. Das heißt, dass über Zweck und Umfang der kollektiven Solidarität politisch entschieden werden muss. Die Staatsbürger sollen von Jahr zu Jahr um den Aufwand für die Solidarität kämpfen. Die Steuer, die alle betrifft und das vornehmste Mittel zur Herstellung von Gerechtigkeit und bürgerlicher Gleichheit ist, muss politisch sein.

Der europäische Sozialstaat hat, auch unter der Fahne der sozialen Marktwirtschaft, den Satz außer Kraft gesetzt. Allenfalls Bruchstücke sind realisiert worden, etwa in dem englischen National Health Service, der in den Zwanzigerjahren eingeführt und immer direkt vom Staat aus Steuermitteln finanziert worden ist. Auf dem Kontinent kam es gar nicht so weit. Die in mehr als hundert Jahren gewachsenen Versicherungssysteme haben die Solidarität der Staatsbürger entpolitisiert. Was die Solidarität verlangt, welche Ansprüche die Staatsbürger an sie stellen dürfen, ist auf der politischen Bühne seit langem nicht mehr diskutierbar. Dass das Solidaritätsband ein politisches Band ist, musste den Bürgern nie klar werden. Dass der „Generationenvertrag“ ein falsches Etikett ist, das die Kosten der Solidarität in die Zukunft verschiebt, um den immer fälligen Konflikt zu vermeiden, kam den wenigsten in den Kopf. Wachstum, aus dem die Solidaritätskosten bezahlt werden konnten, war ja immer und würde immer sein.

Damit wurde auch die repräsentative Demokratie korrumpiert. Solidarität ist zu einer Staatsveranstaltung geworden, die nicht mehr in Frage gestellt wird. Niemand ist für sie verantwortlich. Diese Verantwortungslosigkeit für eine im Zwang erstarrte Solidarität bricht dem Sozialstaat moralisch das Genick.

Heute, da die sozialen Sicherungssysteme ihrer Lähmung entgegensehen, schiebt sich der Fundamentalsatz wieder auf die Szene. Die Funktionäre aller Kategorien weigern sich jedoch, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Alle fürchten eine Repolitisierung der Solidarität, wenn diese im offenen Konflikt um Steuerverteilung und Steueraufkommen entschieden werden muss. Es müssten dabei ja die Karten aller Interessengruppen auf den Tisch gelegt, Verweigerung und Zustimmung begründet werden. Damit aber würde der korporatistische Wohlfahrtsstaat geknackt werden. Im Schatten seiner organisierten Verantwortungslosigkeit spielten allein die Funktionäre ihre Rollen.

Fürchten müssen auch das große und das kleine Kapital den Zerfall des Sozialstaats und seiner Ersetzung durch eine steuerfinanzierte Solidarität. Der von ihnen bekämpfte Sozialstaat hat ihnen viele Konflikte erspart. Und wenn sie vom Staat in die Solidarsysteme eingebunden wurden, so diente es auch ihrer Rettung. Denn es war vor allem der europäische Sozialstaat, unter dem der Klassenkonflikt begraben werden konnte.

Es wird, wie man heute schon sehen kann, niemals mehr das Wachstum geben, mit dem die ausgepowerten Solidarsysteme des verwahrlosten Sozialstaats zu retten wären. Es ist also der grimmigen Wirklichkeit ins Auge zu sehen, dass die Rechnung für die Solidarität aus den schwindelnden Höhen der Zukunftshoffnung auf den Boden der Gegenwart geholt werden muss. Die Solidarität kann nur aus den Guthaben finanziert werden, die erwirtschaftet, abgerechnet und versteuert sind. Damit ist auch eine Drohung ausgesprochen, die heute nicht akzeptabel erscheint: Alle Anwartschaften und Ansprüche auf Solidarleistungen „weil man doch so viele Jahre eingezahlt“ hat, werden entwertet. Sie werden erst einmal gekündigt.

Damit würde das eintreten, was zehntausenden von amerikanischen Arbeitnehmern der Konkurskonzerne Enron etc. soeben zugestoßen ist. Zum einen verloren sie als Aktionäre ihrer Unternehmen viel Vermögen, das ihrer Zukunftssicherung dienen sollte, zum anderen verloren sie, da sie ihre Lebens- und Krankenversicherung den firmeneigenen Pensionsfonds anvertraut hatten, ihre Fundamentalsicherung, ihre Jobs waren sie ohnehin los. Sie sind zunächst ganz darauf angewiesen, dass ihnen der Staat seine Solidarität gewährt, mit einem Minimum, das für alle gleich sein muss, also ehemaligen Verdienst und eigene Einzahlung nicht in Rechnung stellt. Um das eigene Nachdenken über Solidarität und Lebenssicherung zu schärfen, kann die Vorstellung nicht schaden, dass der Sozialstaat auf ähnliche Weise Konkurs anmelden muss.

Nur noch Naive können darauf setzen, dass der Generationenvertrag, die vom Staat organisierte Zwangsorganisation, gebaut auf ungedeckte Schecks der Zukunftserwartungen, auch nur noch ein Jahrzehnt aufrechterhalten werden kann. Das bedeutet, dass der Staat immer öfter mit Steuermitteln einspringen wird, ohne doch das Steuer ganz in der Hand zu haben. Es wird ihm aber, zum Unwillen der Wähler, nichts übrig bleiben, als mit harten Direktiven einzugreifen, will er die unentbehrlichen Reste der organisierten Solidarität retten. Dafür muss er sich, weil er gegen einen Kranz von Interessen und Konsumegoismen kämpfen muss, stark machen.

Wenn es stimmt, dass rund die Hälfte aller Heil- und Pflegekosten aufs Konto von selbst verschuldeten Krankheiten geht, dann muss der Staat dort einen Schnitt machen. Wer sich im Skiurlaub ein Bein bricht oder beim Motorradrennen verunglückt, wer vom Riesenrad fällt oder sich vom Walkman das Trommelfell beschädigen lässt und dafür das Solidarsystem der Krankenkassen in Anspruch nehmen möchte, handelt asozial. Ihm muss die Solidarität verweigert werden, im Interesse der Vielen, die sich disziplinieren, um gesund zu bleiben und ihre Einkommensteuer bezahlen zu können.

Dass das Solidaritätsband ein politisches Band ist, musste den Bürgern nie klar werden

Die zahlreichen Räusche, die sich die Massengesellschaft leistet und mit ihrem sozialschädlichen Konsum die Wirtschaft stimuliert, sind jahrzehntelang vom Sozialstaat begünstigt, ja direkt bezahlt worden. Wenn sich die Bürger diese Räusche versagen müssen, weil der Staat für die Folgen nicht mehr haftbar gemacht werden kann, wird es ein Riesengeschrei geben: von den Skiliftbetreibern und den Motorradbauern, von der Ferienindustrie und den Werften für die Vergnügungsschiffe der reichen Greise bis zu den Kliniken für die Entschlackung der unzähligen Überfetteten. Überflüssig würden Millionen von Arbeitsplätzen, die vom hilflosen Sozialstaat abhängig sind.

So ist es schließlich der Staat selbst, der die Entsolidarisierung der Bedürftigen betreibt, weil er von den unsolidarischen Verhaltensweisen der Konsumbürger aufrechterhalten wird. Dieses System, das am Anfang so segensreich war, weil es die egalisierende Industriegesellschaft in ihrem Aufstieg trug, überhaupt die Leistungsfähigkeit des modernen Staates erst möglich machte, ist jetzt am Ende. Wenn man sich jenen Fundamentalsatz der bürgerlichen Republik vor Augen führt, wird man das leichter begreifen.

CLAUS KOCH