Wenn der Wohlstand sich erhebt
: Reden vom Notstand

Wo alarmistische Rhetorik herrscht, dort ist es mitder sachlich-politischen Auseinandersetzung vorbei

Es steht schlecht um den kranken Mann an der Spree. Um sein Krankenbett drängeln sich die roten und die grünen Kurpfuscher, um ihn weiter zur Ader zu lassen. Jetzt gilt erstens: die Lage war noch nie so ernst, und zweitens: es droht Deutschlands Untergang.

Alles schon mal gehört, alles altbackene, wirkungslose Adenauer-Rhetorik? Vorsicht. Aus der Versammlung reaktionärer Windbeutel vom Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bis zur Bild-Zeitung kommen die Stichworte, mit Hilfe derer der deutschen Demokratie durchaus auf den Leib gerückt werden kann.

Gegenwärtig macht der Begriff „nationaler Notstand“ Karriere. Wo Notstand herrscht, gelten andere Gesetze des Handelns als zu ruhigen Zeiten. Da heißt es, zu außerordentlichen Mitteln zu greifen. Der „Notstand“ war und ist das Exerzierfeld, auf dem demokratische Verfahrensweisen zur Disposition stehen. Nicht das Volk ist souverän, sondern der, der über den Ausnahmezustand gebietet.

Wir bewegen uns hier im Dunstkreis des autoritären Staatstheoretikers Carl Schmitt. Dazu passend die Polemik des Historikers Arnulf Baring gegen den Parteienstaat in der FAZ, wo nicht etwa die Forderung nach Demokratisierung der Parteien im Zentrum steht, sondern der Mangel an durchsetzungsfähigen Führern.

Was gelten schon Wahlen?

Die Rede vom „nationalen Notstand“ spielt einen angeblichen Volkswillen gegen den Willen aus, den das Volk mittels der Bundestagswahlen bekundet hat. Was gelten schon Wahlen gegenüber dutzenden empörter Bürger auf der Titelseite der Bild-Zeitung?

Der Volkszorn soll die Verordnungen und Gesetze wegfegen, die eine verfassungsmäßig zustande gekommene Regierungsmehrheit beschließt.

Angeblich herrscht breite Übereinstimmung „im Volk“ über die in Zeiten nationaler Not zu ergreifenden Maßnahmen: Weg mit dem Sozialplunder, weg mit den gewerkschaftlichen Bremsklötzen.

Das Volk ist mit sich selbst identisch und zwischen Volk und Führung muss es die gleiche wesensmäßige Identität geben – oder alles zerfällt.

Diese ganze „Ruck“- und Notstandsrhetorik wird begleitet von einer bislang nicht erlebten Verluderung der politischen Umgangsformen seitens der reaktionären Frondeure.

Wo von „Diebstahl“ und „Betrug“ die Rede ist, wäre eigentlich die politische Auseinandersetzung am Ende angekommen und der Staatsanwalt zuständig. Wir kennen diese Art von Verleumdungen aus der Geschichte der Weimarer Republik, wo sie nicht wenig dazu beitrugen, dem Nazismus den Weg zu bereiten.

Früher hieß es bei jeder Gelegenheit feierlich, man sehe in der rot-grünen Regierung den Gegner – und nicht etwa den Feind. Jetzt erleben wir den Augenblick der innerstaatlichen Feinderklärung.

Der Kampf gegen den Feind ist, ganz wie Carl Schmitt es lehrte, eine Überlebenssache. Er muss brutalstmöglich geführt werden. Mit den Mitteln, die der Notstand erheischt.

Der Aufruf der Rechten zur Revolte ist einfach komisch. Was aber mit ihm ideologisch transportiert wird, ist brandgefährlich. Der Boden wird bereitet. CHRISTIAN SEMLER

Panik im Krittelstand
Wenn es sogar dem Feuilleton wirtschaftlich an den Kragen geht, dann ruft es eben auf die Barrikaden

Am Dienstag war er für die Bild-Zeitung noch ein „renommierter Politikwissenschaftler“, gestern avancierte der studierte Jurist Arnulf Baring im selben Blatt schon zu „unserem bedeutendsten Historiker“. Gleich absatzweise zitierten die Boulevardjournalisten aus einem Beitrag des Berliner Professors für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem er die Bürger „auf die Barrikaden“ rief. So viel Eintracht war nie zwischen den feinsinnigen Feuilletonisten aus Frankfurt und den hemdsärmeligen Kollegen aus Hamburg.

Dass sich Bild zum Sprachrohr des mutmaßlichen Volkszorns macht und dem Kanzler ein seitenfüllendes „uns reicht’s“ entgegenschleudert, ist nicht unbedingt neu. Neu ist, dass die Krise nun auch Kulturjournalisten erreicht hat, die für die Nöte der niederen Stände bislang weniger empfänglich waren – und dass diese überwiegend jüngeren Autoren ihre persönliche Panik als Maßstab für das große Ganze nehmen. Seit einer Woche vergeht kein Tag, an dem sie nicht in apokalyptischem Tonfall zum Volksaufstand gegen den drohenden Untergang Deutschlands aufrufen. In einem Verlagshaus, das nach Jahrzehnten der Prosperität auf einmal 170 Redakteure entlässt, hält man es offenbar für eine neue Erkenntnis, „dass kaum eine Lebenssituation so zuverlässig Scham hervorruft wie Armut oder Arbeitslosigkeit“. Nicht der maßlose Expansionswille von Verlagsmanagern, sondern die Unfähigkeit der Schröder-Regierung soll jetzt daran schuld sein, dass „die Instanzen der Kritik selbst“ – und damit das FAZ-Feuilleton, wie man annehmen darf – „auf dem wirtschaftlichen Spiele stehen“.

Die Regierung, heißt es da in ungewohnt schrillem Tonfall, blase zum „Kampfeinsatz gegen die junge Generation“, und Schröders Wirken sei „für dieses Land in etwa so segensreich wie ein Luftangriff“. Der Fernsehunterhalter Harald Schmidt verprelle „Scharen von in ihren Existenzen getroffenen oder bedrohten Zuschauern“, wenn er über eine solche Politik noch harmlose Witzchen reiße. Das alles liest sich wie der Hilferuf einer „verlorenen Generation“, wie es sie zuletzt in der Weimarer Republik gegeben hat.

Reminiszenz an die Krise

Da ist es nur folgerichtig, dass sich sogleich Reminiszenzen an die Weltwirtschaftskrise der frühen Dreißigerjahre einstellen, als der Soziologe Theodor Geiger eine „Panik im Mittelstand“ konstatierte. Ausgerechnet der ehemalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine verglich in Bild Gerhard Schröder mit dem Reichskanzler Heinrich Brüning, dessen eiserne Sparpolitik die Krise damals noch verschärfte. Während der linke Lafontaine jedoch die „neoliberale Wirtschaftspolitik“ der Regierung anprangerte, sah Baring die Bundesrepublik schon auf dem „Weg zu einer westlichen DDR“.

Dem 70-jährigen Baring, dessen apokalyptische Zeitdiagnosen im intellektuellen Milieu bislang wenig Zuspruch fanden, verschafften die verzweifelten FAZ-Redakteure am Dienstag einen ungewohnt großformatigen Auftritt auf der ersten Feuilletonseite. Der konservative Professor griff den Brüning-Vergleich des SPD-Linken Lafontaine begierig auf. Mit dem Unterschied freilich, dass er das undemokratische Notverordnungsregime des Reichskanzlers nicht fürchtet, sondern herbeisehnt. Die Lage, so Baring, sei „reif für einen Aufstand“. RALPH BOLLMANN

Streben nach Aufstand
Der Ruf nach einer Revolution stellt das Wesen der Republik in Frage – aber Alternativen gibt es keine

Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand – mit dieser etwas komplizierten Wendung umschrieb der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann damals in den Siebzigern seinen literarischen Ansatz. Hier und heute geht es um Politik, nicht um Literatur. Dennoch lässt sich die gegenwärtige Debatte mit dieser Wendung charakterisieren. Wenn auch unausgesprochen, dreht sie sich um die Frage, auf welche politischen Ziele man das Unbehagen an der Regierung projizieren kann. Was will man mit seiner ins Konservative gewendeten Lust an der Revolte erreichen? Bei der Beantwortung dieser Frage geht – wen wundert’s – einiges durcheinander.

Zunächst einmal, so wird behauptet, geht es um Sachprobleme. Man traut dem Kanzler, der Regierung, im Grunde der ganzen politischen Klasse nicht zu, die Probleme bei der Rentenversicherung, im Gesundheitswesen, bei der Arbeitslosigkeit zu lösen. Artikuliert wird auch das Gefühl, dass die da oben sich gar nicht um diese Probleme kümmern. „Dass Kanzler irgendwann die Welt nicht mehr sehen, wie sie ist, sondern so, wie sie sie wollen und sich vorstellen, ist eine übliche déformation professionelle“, schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Um eine Anerkennung dieser Probleme zu erreichen, soll gegen die unterstellte Wirklichkeitsverzerrung der attestierte Volkszorn stark gemacht werden.

Das ist eine leichte Reminiszenz an die Außerparlamentarische Opposition, im Kern aber doch etwas anderes: Im Grunde haben wir jetzt den Populismus, vor dem vor der Bundestagswahl immer gewarnt wurde, bei der Wahl letztlich aber alle Parteien zurückgeschreckt sind. Doch da ist noch mehr. Die Redeweise vom Aufstand, vom Systemwechsel und von der Revolte suggeriert auch ein grundsätzliches Unbehagen an der Verfasstheit dieser Republik überhaupt.

Weiterwursteln wollen alle

Was derzeit zu erleben ist, ist der Ansatz eines Schulterschlusses der Geiz-ist-geil-Generation, die gerade die Reize des Sparens entdecken muss und wenig Anreize hat, weiterhin für die Renten der älteren Generation aufzukommen, mit den konservativen Kadern, denen nicht nur die ganze Richtung des rot-grünen Weiterwurstelns nicht passt. Sondern auch des ja ebenso vorhandenen Weiterwurstelns in seiner CDU/CSU-Variante. Die Verweise auf die Ermattung aller politischen Parteien und auf das Scheitern der Konsensmodelle im Ganzen sind ja nicht zufällig.

Wohin soll also der Aufstand führen? Zu eine Annullierung der letzten Bundestagswahl? Zu einem Sturz Schröders? Zu einer Abschaffung unseres Parteiensystems im Ganzen? Die Frage ist nur: Hat jemand verheißungsvolle Alternativen? Hat keiner. Eben. Solange es die nicht gibt, wird man weiterhin davon ausgehen müssen, dass man es hier mit einer Medienkampagne zu tun hat – und nicht mit tatsächlich politikfähigen Vorschlägen.

„Bei künftigen Regierungswechseln wird allein die ganz besonders entkräftete und entleerte Partei durch die noch nicht ganz so ermattete Partei ersetzt. Darin wird es sich erschöpfen.“ Das hat, neulich in der taz, der Parteienforscher Franz Walter geschrieben. Er hat hinzugesetzt: „Und eben das ist das Problem dieser Republik.“ Den letzten Satz sehen diejenigen, die derzeit nach Revolte rufen, auch so. Etwas Besseres anzubieten haben sie nicht. DIRK KNIPPHALS