Fundamental rückständig

Auf dem Weg nach Europa (1): Der wirkliche Wertekonflikt besteht nicht zwischen der EU und der Türkei, sondern innerhalb des Westens beim Streit um soziale Gerechtigkeit

Eine Unionsbürgerschaft kann einzig auf der Zustimmung zu den Europäischen Verträgen beruhen

Eine nicht geringe Zahl von US-Amerikanern ist der Auffassung, Kanada sei Teil der Vereinigten Staaten, was mehr oder weniger freundlich gemeint ist. Umgekehrt ist deren Beitrittswunsch zu einem politischen Gemeinwesen nicht sonderlich stark, das sich ständig mit Gesamt-Amerika gleichsetzt, auch eine Vereinigung mit Mexiko steht nicht auf der Tagesordnung. Wenn Kanadier oder Mexikaner amerikanische Staatsbürger werden möchten, würde dagegen niemand ethnische, politische oder sonstige Unvereinbarkeiten anführen, und ebenso können Türken Deutsche und damit EU-Bürger werden. Ein bekannter liberaler Meinungsführer sprach den Türken jüngst jedoch pauschal die Integrationsfähigkeit und der Türkei die Europafähigkeit ab.

Die Deutsch-Türken werden, ebenso wie die „islamische Türkei“, zum Testfall für die Überwindung substanzieller Identitätskonzepte, die auch bei Hans- Ulrich Wehler am Ende auf eine christlich-abendländische Leitkultur hinauslaufen, und ihre angebliche Unvereinbarkeit mit „dem“ Islam. Der Historiker begeht zwei kapitale Denkfehler. Erstens übersieht er die wachsende Heterogenität der türkischen Einwanderer, zweitens islamisiert er die Türkei – und christianisiert damit die EU. Das macht die Debattenlage noch unübersichtlicher, in welcher der Vorsitzende des europäischen Konvents, Valéry Giscard d’Estaing, dagegen zu Felde zieht, die Türkei umgehend in die EU aufzunehmen. Die Bundesregierung ist zwar für deren Aufnahme, allerdings nur aus übergeordneter Sicht (Reparatur der transatlantischen Allianz).

Da das beliebte Argument „wirtschaftliche Rückständigkeit“ nicht nur auf die Türkei, sondern grosso modo auch auf Polen oder die Slowakei anzuwenden wäre, können nun nur noch politische Ablehnungsgründe angeführt werden: also vor allem die Anerkennung der Menschenrechte und die demokratische Lebensform. Das hat es allerdings immer schon schwierig gemacht, Europa auf die geografische Einheit „vom Atlantik bis zum Ural“ (de Gaulle) zu beschränken und vom Westen insgesamt abzugrenzen. Europa ist weder eine ethnische Abstammungsgemeinschaft, noch besitzt es eine historische Gemeinsamkeit, die allein auf die EU-Nationen einzugrenzen wäre. Europas Identität war immer schon exzentrisch und inklusiv. Deshalb kann eine Unionsbürgerschaft einzig auf der Zustimmung zu den Europäischen Verträgen und einer (künftigen) europäischen Verfassung beruhen, nicht auf irgendeiner substanziellen Qualität, die man ausschließlich bei Europäern finden könnte. Europas Identität liegt in der Zukunft.

Wenn also der Wille zur politischen Gemeinschaft das christliche Abendland transzendiert, wird jedes weitere Hochhalten der Grenze am Bosporus begründungspflichtig. Gewiss können gegen einen EU-Beitritt der Türkei demokratiepolitische Gründe geltend gemacht werden. Ihrer Hinwendung zum modern-säkularen Staaten misstrauen viele, auch in der Türkei. Nachdem das Parlament in Ankara im Sommer ein überzeugendes Reformpaket verabschiedet hatte (Abschaffung der Todesstrafe, Legalisierung kurdisch- und arabischsprachiger Sendungen in Rundfunk und Fernsehen, privater Unterricht in diesen Sprachen, Liberalisierung des Vereins- und Stiftungsrechts, Festigung des Demonstrationsrechts und anderer Grundrechte), stellte der Wahlausgang im November die Annäherung der Türkei an europäische Standards der Trennung von Religion und Politik wieder in Frage.

Manchen in Berlin, Brüssel und Bielefeld war der Wahlsieg Erdogans offenbar sogar recht: Sonst müssten sie nun einer liberal-bürgerlichen Regierung in Ankara erklären, warum sie weniger europafähig ist als beispielsweise die amtierenden Antieuropäer in Dänemark, die rechtsstaatsfeindliche Regierung in Rom oder eine autoritäre Regierung in Bratislava. Oder sie müssten, wie die amerikanische Diplomatie, Verwestlichung auf ein Militärbündnis gegen den (islamischen) Terrorismus reduzieren und dann ganz selbstverständlich Putins Russland einbeziehen.

Russland ist in der Tat der hypothetische Testfall für die europäische Identität. Es könnte eine christlich-orthodoxe Vergangenheit für die Aufnahme in die EU anführen (die bislang keiner wünscht). Seine bürgerlichen Eliten sind, ähnlich wie die türkischen im 20. Jahrhundert, seit langem nach Westen orientiert. Was Russland dagegen vom vereinten Europa trennt, sind nicht geografische, religiöse oder kulturelle Differenzen, sondern letztlich seine autoritäre politische Kultur und vor allem seine imperiale Dimension.

Wollten etwa die USA in die EU aufgenommen werden, müsste man gleichfalls konstatieren: Amerika unterscheidet sich von Europa durch eine imperiale Ambition (was weder ein neues nordatlantisches Militärbündnis noch eine künftige Handelsunion ausschließt) – und einen fundamentalen, in den letzten Jahrzehnten eher gewachsenen Dissens in Sachen soziale Gleichheit und Gerechtigkeit.

Hier verläuft eine echte Konfliktlinie, und zwar mitten durch den Westen, die so oft vom vermeintlichen Hauptwiderspruch zwischen dem Westen und dem Rest der Welt überdeckt wird. Wehler und andere schlagen die falsche Schlacht, und das verwundert umso mehr, als sie an ihrem Unbehagen an der amerikanischen Sozial- und Sicherheitspolitik keinen Zweifel lassen. Was zudem gegen die USA als EU-Kandidat spräche, ist vor allem eine Dialektik von Entgrenzung und Begrenzung, die jedes supranationale Gebilde (unterhalb der UNO oder transnationaler Wirtschaftsregime) kennzeichnet.

Europa besitzt keine historische Gemeinsamkeit, die allein auf die EU-Nationen einzugrenzen wäre

Im Prinzip ist es also gut für Russland und die USA, dass sie der EU nicht beitreten möchten. Sie dürften bei der derzeitigen Debatte keine Chance haben, denn es geht vor allem um die Größe einer regionalen Einheit, die noch politisch steuerbar sein soll. Das könnte, wie Kritiker zu Recht bemerken, gegen die gegenwärtige EU-Erweiterung sprechen, darunter gegen den türkischen Beitritt. Ist er im europäischen Interesse, macht die Erweiterung Europa politisch stärker und handlungsfähiger?

Der „europäische Weg“ endet an der Wolga und am Mississippi, nicht am Bosporus. An dieser politischen Nichtidentität zeigen sich Europas Grenzen und seine notwendige Exklusivität, nicht an der Zurückweisung des Islam, der nach der Masseneinwanderung längst ein Teil Europas geworden ist und sich gerade hier modernisieren kann. Daran müssten die politische Öffentlichkeit und die Institutionen wachsen. Doch verharrt Europa weiterhin in provinziellem Nationalismus und verhält sich gegenüber den amerikanischen oder asiatischen Entwicklungswegen viel zu defensiv. Zu allem Überfluss spielen seine Intellektuellen, die neuerdings den Islam auf dem Kieker haben, nun auch noch Arrieregarde und glauben offenbar selbst nicht an die Kraft und Attraktivität der Europäischen Union.

CLAUS LEGGEWIE