Unser Jimi stirbt nie!

Herr Evers vom Getränkemarkt wird sechzig. Jimi Hendrix wäre es am kommenden Mittwoch auch geworden. In Westfehmarn gedenken seine Fans Jahr für Jahr des letzten Konzerts, das Hendrix auf Erden gab. Alle machen mit – von der Batikgruppe bis zur Freiwilligen Feuerwehr

von PETER SCHANZ

Das läuft ganz einfach: Weil du weißt, dass bei Bauer Reese in Schlagsdorf ein fetter Findling im Knick liegt, leihst du dir den Kran von Bauer Scheel aus Orth und bringst das Ding zu Lewerenz nach Kopendorf. Der ist Steinmetz, will auch nicht immer nur in Grabsteine hacken und meißelt jetzt eine Fender Stratocaster in den Stein aus Bauer Reeses Knick. Dann holst du noch mal Scheels Kran und karrst den Findling nach Flügge an den Deich hinter dem Campingplatz.

Dort, keine hundert Meter vom Ostseestrand, wird der Sechstonner feierlich enthüllt. Du hast alles fotografiert, schickst nun die Abzüge in die USA an Janie nach Seattle. Sie ist das Familienoberhaupt. Und sie soll wissen, wie sehr auf Fehmarn an ihren Bruder gedacht wird. „Jimi Hendrix Fehmarn“ heißt die Inschrift auf dem Stein unter der Gitarre, „Love and Peace Festival 4.–6. Sept. 1970“.

Das Erinnern an den genialsten aller Rockgitarristen ist keine schnurrige Laune verschrobener Ostseeinsulaner. Sondern historische Verpflichtung. Denn Jimi Hendrix, der in ein paar Tagen sechzig Jahre alt geworden wäre, hätte er ein bisschen besser auf sich aufgepasst, ist gestorben, kurz nachdem er auf einer westfehmarnschen Wiese am ersten Septemberwochenende 1970 ein letztes Mal öffentlich seine Gitarre geleckt und gebissen hatte. Hinter Püttsee, am Flügger Strand.

Unmittelbar nach seinem Auftritt war er samt seinen Gitarren vom fehmarnschen Taxibesitzer Otto Barnasch gleich vom Deich weg zum Hamburger Flughafen gefahren worden, nicht ohne für die beiden Barnasch-Kinder je ein Autogramm hinterlassen zu haben. Hendrix flog zurück nach London in sein Hotel und fand dort – an seiner Kotze erstickt – nur noch das Jenseits.

Das klingt sehr märchenhaft für den, der nicht dabei war. Weil aber damals doch immerhin dreißigtausend zwischen Entfesseltheit und Phlegma einhertaumelnde Zeitgenossen dem ehrgeizigen Versuch beigewohnt hatten, ausgerechnet in Schleswig-Holstein das europäische Woodstock sich ereignen zu lassen, gibt es seit über dreißig Jahren eine oralhistoriografische Ich-war-dabei-Bekenntniskultur.

Zwischen Kriegsberichterstattung und Heiligenverehrung wird stolz erinnert, verzückt verklärt, wird Mythenmix mit Bildbeweisen angereichert, werden geheime Tonfragmente und allerlei Devotionalien gehandelt. Der letzte Auftritt, das finale Konzert des begnadeten Musikers an der geliebten Gitarre, bleibt seit jenem Sonntagmittag, 12.56 Uhr am 6. September 1970, für die Ewigkeit mit Fehmarn verbunden.

Und mit Chaos auf dem Campingplatz, mit Windstärken sieben bis acht, mit Neugeborenenleichen im Straßengraben, mit brandstiftenden Rockern, mit dem Waterloo für Love + Peace und mit Hans-Christian Evers. Der ist genauso alt wie Hendrix. Jahrgang 1942. Und wie Jimi war Evers auch 1970 dabei. Aber Evers lebt. Und seine Getränkehandlung in Petersdorf auch.

Das sah 1970 nicht unbedingt so aus. 350.000 Einheiten Getränke in Dosen sollte der junge Kerl beibringen. Er hatte sich vertraglich dazu verpflichtet, hatte eine mächtige Einlage vorgeschossen und musste nun logistisches Neuland beackern. Denn 350.000 Einheiten Getränke waren Anfang September 1970 in ganz Schleswig-Holstein nicht zusammenzubringen. So liehen sich er und seine Leute Lastwagen, fuhren bis Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, „bis Sinalco Detmold“, und verstauten den ganzen Kram dann nahe dem Festivalgelände in diversen Scheunen in Petersdorf und Püttsee, alles eigenhändig abgeladen.

Ach, ein großes Fest hätte es werden können. Aber keiner hatte mit dem Sturm gerechnet. Denn am ersten Wochenende im September gibt es keinen Sturm auf Fehmarn. Gab es noch nie. Sagten auch der hundertjährige Kalender und alle Bauernregeln sowieso. Im Sturm wollte dann keiner mehr Evers Sinalco. Regen und Schweinekälte: Die Rockers schafften es in drei Tagen nicht, ihre geklaute Sau auf dem Grill essbar gar zu kriegen.

Kulturschock absolut: „Keiner von uns wusste damals viel von Hasch und Spritzen. Das war auf Fehmarn alles nicht so bekannt.“ Dann sind die Rockers mit dem Geld weggegangen, haben die Wohnwagens angesteckt, die Veranstalter sind geflohen, und das traurige Wetter, ach ja, ach nein. Tags darauf am Montag sei dann aber der Himmel wieder strahlend blau gewesen, absolute Windstille habe der neue Tag gebracht und neues Leben.

Evers war auf Miesen in Zehntausenderhöhe hängen geblieben. Und die Gemeindeverwaltung hatte beschlossen, dass von fehmarnschem Boden nie, nie, nie wieder so ein Festival ausgehen dürfe. Aber neulich hat der eingetragene Verein FFG Fehmarn Festival Group e. V. schon das achte Festival neuer Zeitrechnung veranstaltet. Evers – „Ihr Fachmann, wenn es um Getränke geht“ – ist Sponsor. „Solange das bestehen bleibt, werd ich das weiter unterstützen“, sagt Evers heute. „Ich selbst bin ja mehr für die alten Oldies. Und Schlagermusik. Früher war Elvis gut. Aber wenn man langsam sechzig ist …“

„Man weiß ja auch nicht, wie sich Jimis Musikgeschmack verändert hätte“, sagt Dirk „Präsi“(dent) Struve, der Vereinsvorsitzende, der auch im tiefen fehmarnschen Winter Kultur schaffend Bluesbands in Hein und Beas Scheune nach Dänischendorf einlädt. Gemeinnützig ist der Verein FFG, rein ideell ist das Ziel, auf Fehmarn Folk & Rock und Blues hören lassen zu können. „Umsonst und draußen wird das Festival immer bleiben. Wenn das zu groß wird, haben wir keine Lust mehr. Mit Eintritt ist das nicht mehr unser Ding. Dann müssten wir ja Zäune aufbauen. Das wär nicht unsers. Wirklich nicht.“

Struve ist jünger als Evers, war 1970 erst elf. Er kennt das Festival also eher aus der Heimatforschung, kennt die Dönekens und die rural legends. Vor allem aber kennt Dirk Struve die Leute. Viele Leute. Das liegt an seinem Beruf: Präsi ist Elektroinstallateur und kommt in viele Häuser. Das hilft nicht nur, das ist wohl die Voraussetzung „für wenn du hier was auf die Beine stellen willst“.

Am Anfang war das Silberjubiläum des großen Love+Peace-Desasters: 1995, bescheiden in Petersdorf begangen. Dort, wo sich heute Edeka und Aldi einen Parkplatz teilen, haben ein paar interessierte Privatleute zusammen mit dem Gewerbeverein in gut zwei Wochen ein erstes Jimi-Hendrix-Revival-Festival aus dem Boden gestampft. Haben sich den Namen schützen lassen, paar norddeutsche Bands engagiert und Getränke-Evers mit ins Boot geholt. Und vor allem auch: den unverdächtigen Gewerbeverein.

Ein honorig mittelständisch-ländlicher Zusammenschluss, der vornehmlich den bisherigen Jahreshöhepunkt Westfehmarns, nämlich das Rapsblütenfest, organisiert. Während jener im Volksmund weniger ironisch als vielmehr sachlich auch Schnapstütenfest genannten kollektiven Brauchtumspflege werden alljährlich unter der blühenden örtlichen weiblichen Jugend sowohl die Rapsblütenkönigin (aktuell amtierend Sabrina I.) als auch die Rapsblütenprinzessin (das ist dieses Jahr Prinzessin Monique) ermittelt.

Ein ordentliches Volksfest eben. Und weil also beim ersten Revival auf dem Parkplatz die Gewerbevereinsleute mit von der Partie waren und weil Struve alle kennt und weil Evers es auch gut fand, weil es also alles Westfehmarner waren, die das wollten, hieß es: Na gut, sollnses probieren, sollnses eben machen. Muss ja nich wieder gleich brenn’. Müssen ja nich wieder Rockers dabei sein und Wohnwagens anstecken.

Obwohl es ja bei andern Festivals auch schon gebrannt hat. Scheeßel zum Beispiel. Und was war letztens in Roskilde? Außerdem brennt’s ja manchmal auch, ohne dass ein Rockfestival wäre. Also wir machen das. Und wir, das sind alle. Denn ohne alle geht nix. Und alle sind: wirklich alle, von den Freiwilligen Feuerwehren Sulsdorf und Süderort über die von der Klaus-Groth-Schule unterstütze Batikgruppe und die Polizeistation Burg bis zu allen Kuchenbackern, Parkplatzanweiserinnen und Kinderbetreuern.

Und Evers natürlich, mit seinem Zapfteam. Und die Wandergesellen – vor allem die. Die Wandergesellen wissen Bescheid: Erster Sonnabend im September geht das wieder ab. Sie kommen immer eine ganze Woche früher, kriegen auf dem Campingplatz ein Zelt aufgebaut und werden verpflegt. Von den ehrenamtlichen Wandergesellenverpflegern. So muss der Verein nur das Material und das Gerät leihen, aber nichts bezahlen für den Aufbau. Nächstes Jahr kommen alle wieder. Darauf kannste dich verlassen.

Das Geheimnis ist also: Du musst die Leute kennen. Und sie müssen dich kennen. Dann ist das ihrs, also unsers, also unser Unsers wird dann auch denen ihr Unsers. Also es ist ein Festival von uns allen. Deshalb machen wir’s ja.

Und du musst dich bedanken. Darfst keinen vergessen. Lieber einmal zu oft. Das ist eigentlich das ganze Geheimnis. Dass das eben nur umsonst funktionieren kann. Wenn irgendeiner dabei wäre, der was verdient, wär gleich keiner mehr dabei, der was umsonst macht. Also: alles ehrenamtlich, gemeinnützig, umsonst. Bloß kein Eintritt, bloß kein Zaun, bloß kein Gewinn, bloß kein Geschäft, bloß kein Wachstum.

Im Vertraun: Die öffentlich genannten Besucherzahlen werden vorsätzlich deutlich nach unten korrigiert. Hat man solches je gehört?

Natürlich sind das alles Strukturen, die auch anderswo in ländlichen Räumen noch nicht ausgestorben sind. Das Selbstverständlich-Freiwillige, das Ungezwungen-Ehrenamtliche: Einer steht am Grill, eine macht die Erbsensuppe, einer brüht den Kaffee. Klar, das kennen wir alles von Pfarrfest, Dritte-Welt-Basar und von offener Tür der Orchideenfreunde. Wenn aber am Ende Besonderes entstanden ist, ganz Großes, dann heißt es Oberammergau. Das trifft es von der Größenordnung schon eher: westfehmarnsches Passionsspiel.

Aber das ist auch das unvergleichlich Einzigartige: Dass hier die Leidenschaft der dörflichen Verbände, Bünde, Familien und Vereine ausgerechnet in ein Rockfestival einmündet. Und wir sehen enorme Tätowierungen an monströsen Oberarmen, sehen auf wacker präsentierten Wampen die Früchte der Batikgruppe: Da, wo der Knoten gesetzt war, an der Stelle des weiß wegfließenden Flecks, da sitzt das Jimi-Hendrix-Porträt, jedes Jahr ein neues Motiv.

Diese maßlos friedfertige, selbstvergessene Landschaft mit einem Licht voll ozeanischer Klarheit, diese wunderbare, von Mutter Natur so begünstigte wie von Gottvater verlassene Gegend, sie vereint des Menschen faustisch-feiges Sicherheitsbedürfnis – den schnurgerade gezogenen Kunstdeich – mit den sumpfig-schilfigen Feuchtigkeiten ungebändigten Wildwachstums.

Hier kommt zusammen, was nicht zusammengehört und doch den einen Tag als wundersame Einheit sich offenbart. Hier die niederschmetternde Campingplatzdomestiziertheit, die strammstehende Reih-und-Gliedrigkeit mit den arschumschmeichelnden Jogginghosen unter Michael-Schumacher-Kappen; dort die kanonisierte Unangepasstheit mit Flower-Power-Reminiszenz in bauchumspannendem geschnürtem Rockerleder: grandiose Verbrüderungen und Schwesternschaften vorm Dixi-Klo auf dem Festivalacker.

Alles passt allen in alles hinein allumfassend: Das ist Fehmarn Open Air. Im Zeichen Jimis. Hendrix zu Ehren. Wir wollen sein ein einig Volk von Jüngern. Ihm hatte das gefallen.

Wieder ist das erste Septemberwochenende. Dies Jahr wäre Er sechzig geworden. Strahlend blauer Himmel über der Festwiese, anmutige Brise über dem Deich, folgt geilstmöglicher Sonnenuntergang draußen im Wasser über dem Horizont, folgt schließlich ein Sternenhimmel voll Südsee über der ganzen großen Festivalfamilie. Präsi Dirk (Struve) meinte im Grußwort, Randy Hansen, das notorische Hendrix-Double aus Seattle, werde das Festivalgelände so zum Beben bringen, dass Jimi es im Himmel hört.

Struve kennt seine Fehmaraner und deren tektonische Potenzen. Er kann sich auf uns verlassen. Mitternacht ist schon vorüber. Lärmemission im Naturschutzgebiet? Kein Problem. Du kannst zwar je nach Wind Randy Hansen noch Kilometer weiter in Lemkenhafen „The Wind Cries Mary“ röhren hören. Aber auch in Lemkenhafen ist das unser Festival, weil es nun mal unsre Jungs sind, die das alles machen und gut machen, auch wenn sie älter geworden sind, mit Jimi.

Evers Krischan is ja nun auch schon sechzig. Wir rocken derweil den Flügger Strand und lassen mit Randys Hilfe die Erde beben, ganz familiär, genau wie der Präsi es gewusst hat. Liebliche Wohlgerüche steigen zu Jimi empor.

Neohippies und Altrocker zucken feuchten Augs, Angry Young Men aus Ostholstein docken an Lewerenz’ behauenem Findling ihre Seelen an die Siebzigerjahre an.

Oben auf der Bühne wirbelt Herr Hansen aus Seattle in Hendrix-Kostüm und -maske und beißt und leckt seine Gitarre. Unten im Grase liegen VeteranInnen und beißen und lecken einander. Ganz oben liegt Jimi auf seiner Wolke und tut das Nämliche. Am Flügger Strand streicht der Leuchtturm sein Licht über die Liebenden. Und die Ordner von der Freiwilligen Feuerwehr Sulsdorf wünschen fröhlichen Vollzug.

PETER SCHANZ, 45, geborener Oberfranke, freier Autor und Dramaturg, lebt seit wenigen Monaten in Gollendorf auf Fehmarn