Aufbruch der Stadtindianer

Nirgends leben so viele Indios wie in Mexiko-Stadt. Dort geraten sie meist nur als Bettler oder als Objekte folkloristischer Vergnügen in den Blick. Dabei gehörte einst ihren Vorfahren diese Metropole. Ein Streifzug auf der Suche nach modernen indigenen Subkulturen

von ANNE HUFFSCHMID

Schschsch tönt es tagaus, tagein aus einer Ecke des Zócalo, der riesenhaften Plaza mitten im alten Mexiko-Stadt, immer wieder schschsch. Das Rascheln und Rasseln mischt sich in den Soundtrack der Altstadt wie Autohupen oder die Rufe der Maiskolbenverkäufer.

Beim Näherkommen zu einer der kleinen Menschenmengen vor dem Regierungspalast oder an den Ruinen des alten Montezumatempels bietet sich stets derselbe surreale Anblick: Eine Reihe gut gebauter junger Männer stampfen im Halbkreis barfüßig über den Beton, um die Fußknöchel ranken sich Muschelbänder, schschsch, die Köpfe sind von Federkronen in Gold, Rot oder Türkis geschmückt. Sonst sind die goldglatten Leiber fast nackt, sie tänzeln in sich versunken um ein qualmendes Weihrauchtöpfchen, es gibt gefiederte Schilder, Trommeln und Schlangenhäute.

Was wie postaztekischer Cha-Cha-Cha für Touristen anmutet, ist von den Tänzern aufklärerisch gemeint. Die Performance hüpfender Federkronen soll an Glanz und Glorie der 1521 niedergeschlagenen Aztekenmetropole Tenochtitlán erinnern. Alle Requisiten sind aus Stoffen, die vor der spanischen Invasion erhältlich waren, das eigene Outfit ist nach prähispanischen Codices geschneidert.

Im Herzen der Megalopolis, deren Fundamente die Spanier aus dem Gestein des zertrümmerten Tenochtitlán bauten, beschwören die Muscheltänzer etwas, was einmal war und nicht mehr ist. Und sie sind es selbst auch nicht mehr. Zwar lernen und lehren viele dieser jungen Leute das altmexikanische Idiom Nahuátl. Doch schon als Indios dürften offiziell nur wenige von ihnen durchgehen. Erst recht nicht als Azteken, die heute – im Unterschied zu den Mayavölkern im Südosten Mexikos – als ausgestorben gelten.

Was halten Indigene, die ohne Gerassel und Federschmuck in der Hauptstadt leben, von den tanzenden Mestizen? Der Zapoteke Fortino Hernández, Leiter einer Anlaufstelle für indigene Migranten, begrüßt die prähispanische Performance als Zeichen dafür, „dass das alte Mexiko nicht tot ist“. Seinem Kollegen, dem Mixe Pedro González, ist eher unbehaglich dabei. „Die proklamieren so etwas wie kulturelle Reinheit, zurück zu den Wurzeln. Wir aber sind Indios des 21. Jahrhunderts.“

Woran aber erkennt man den modernen Indio im urbanen Getümmel? Am Äußeren wohl kaum. Fast alle Gesichter im Mestizenland schimmern in einem der unzähligen Goldbrauntöne und sind so geschwungen wie die der urmexikanischen Vorfahren. Auch an bestickten Blusen, Taschen und geflochtenen Zöpfen erkennt man sie nicht – eher sind es Studenten, die sich der Sache der Indigenen zu Eigen machen.

Bleibt als gängiges Kriterium die Sprache – also der Versuch, herauszuhören, ob das Spanische Mutter- oder später gelernte Sprache ist. Bei Fortino Hernández ist es das leichte Zögern, ein fast unmerkliches Schwingen in der Stimme, das seine Herkunft verrät. Mit dem Klischee des verlorenen Indios, der mit Poncho und glasigem Blick durch die Straßen des monströsen Molochs irrt, hat der stämmige Mittfünfziger mit der dröhnenden Lache allerdings nichts gemein.

In dem winzigen Dorf namens Yatzachi im Hochland der südlichen Provinz Oaxaca, aus dem er vor über vierzig Jahren kam, gab es nichts, keine Schule, keine Klinik, keinerlei Geschäfte. Die Stadt wurde zur Rettung. „Wir Ausgewanderten sind die, die noch leben“, sagt Hernández. Jahrzehnte lang hat er bei der staatlichen Telefongesellschaft gearbeitet, auch die Nachkommenden wurden hier untergebracht.

Es sind diese Netze, die den Zugereisten das Überleben in der Anonymität der Metropole ermöglichten – und in ihr wird jeder schnell Knotenpunkt in einem Gewebe von Gemeinschaft. In der Koordinationsstelle, die sich um Vernetzung und Verbreitung von indigenem Kulturschaffen und Knowhow bemüht, zeigt Fortino einen kleinen Saal. „Hier machen wir unsere Asambleas, die Versammlungen, wie auf den Dörfern.“

Was anders sein dürfte: In einem der Räume stehen zehn blitzneue Computer, eine Spende der linken Stadtregierung, die samt eigener Homepage von einem „indigenen Informatikkollektiv“ eingerichtet wurden; in einem kleinen Tonstudio werden Hörspiele, Infospots und Konzerte aufgenommen.

Geduldig sitzen Fortino und seine Compañeros um einen langen Tisch und erklären: Was sie gegen sozialarbeiterischen Goodwill haben und gegen die Sicht der Indios als „arm und hübsch anzusehen“. Warum das Indigene mehr als bunte Kleider und schöner Singsang ist, nämlich eine Lebensart und Weltsicht. Und warum der mestizische Mainstream etwas davon zu lernen hätte, etwa von der Ethik des Tequio, der kommunitären Organisation von Arbeit und Handel, bei dem Dienste und Waren bargeldlos gegeneinander verrechnet werden. Technologie und Geschäftssinn sind nicht tabu, sondern hoch willkommen. Wobei der Mehrwert „natürlich“ für die Gemeinschaft erwirtschaftet wird.

Als Sechzehnjähriger ist Pedro González aufgebrochen, auch aus einem Dorf in Oaxaca, dem großen Bruder hinterher. Die Mutter verkaufte Früchte auf dem Markt, eine höhere Schule war nicht bezahlbar. In der Hauptstadt hat der Mixe-Junge erst Rasen gemäht und spanisch gelernt, ist auf die Abendschule gegangen und wurde Elektroingenieur. Es folgten ein paar Semester Ethnologie. „Da bin ich bald wieder rausgegangen“, sagt er heute und grinst, „die wollten immer die Mythen der Indios studieren. Mit unserem Alltag hatte das nichts zu tun.“

Seit ein paar Jahren arbeitet Pedro in dem Migrantenbüro. Dort geht es, neben mehr oder weniger großer Politik, Verhandlungen und Symposien, vor allem um kulturelle Bande, um Feste und Essen und Musik der Bandas, die auf dem Land so beliebten Blaskapellen. „Ich weiß noch, wie mir das Herz aufgegangen ist, als ich hier im Radio zum ersten Mal die Banda Filarmónica hörte“, erinnert Pedro sich.

Sein Landsmann Apolinar González ist einer jener indigenen Informatiker, die die Hard- und Software des Büros aufgerüstet haben. Der smarte Endzwanziger im hellrosa Hemd und mit schönen Mandelaugen war ebenfalls sechzehn, als er aus einem Mixe-Dorf gen Hauptstadt auswanderte. Allerdings weniger aus Not denn aus Neugier, „ich hatte keine Lust auf Ackerbau“. Die Selbstverständlichkeit, mit der er dies sagt, erstickt jede verwunderte Nachfrage. Ein Glückskind offenbar.

Nach Abitur und ein paar Semestern Architektur landet Apolinar in einer Privatuniversität, dort ist er weit und breit der einzig Indigene. Die Mitschüler reagieren befremdet. Wo kommst du denn her: Die Frage wird zum Leitmotiv, die Antwort erntet Ungläubigkeit und Spott. Doch Apolinar lächelt nachsichtig: „Die meisten sind ja über Acapulco und Cancun nicht hinausgekommen.“ Sein Handy klingelt. Er redet ein wenig in einer fremden, sprudelnd melodiösen Sprache.

Was er am meisten aus seiner Heimat vermisse? Das feine Lächeln geht in breites Grinsen über. „Die Mixe-Frauen.“ Doch auch von denen ist manch eine gen Stadt gewandert. Lorenza Gutierrez zum Beispiel stammt aus dem Nachbardorf Santa Maria Tlahuitoltepec, kurz Tlahui genannt, und hat die gleichen dunklen Mandelaugen. Sie aber ist, im Unterschied zum schönen Apolinar, den für junge Indígenas eher üblichen Weg gegangen, die als Muchachas, als Dienstmädchen in städtischen Privathaushalten landen, schlecht bezahlt und schlecht behandelt.

Mit Schaudern erinnert sie ihren ersten Job: als Dreizehnjährige in einer Mittelschichtsfamilie, nur sonntags ein paar Stunden frei, zum Schlafen in ein Kämmerchen gesperrt, für achtzig Pesos – umgerechnet acht Euro – im Monat. Zum Sichbeschweren reichte das Spanisch nicht und wohl auch nicht das Selbstbewusstsein. An beidem mangelt es heute nicht mehr. Lorenza leitet „Mixe Yaam“, eine Anlaufstelle für Mixe-Mädchen, die aus den Bergen in die Stadt kommen. Schwer vorstellbar, dass die junge Frau mit der pop-orangefarbenen Bluse noch für andere Leute putzt und kocht. „Ein Job wie jeder andere“, sagt sie und ihre Augen blitzen.

Das wäre er wohl, wenn ein paar Standards im Arbeitsrecht und Bewusstsein der Patronas, der Arbeitgeberinnen, verankert wären. Etwa, dass man nicht mehr um Mitternacht Geschirr spülen lässt oder die Muchacha zum Gebet zwingen soll, dass sie zum Essen sitzen darf und zum Schlafen ein Bett braucht. „Mixe Yaam“ handelt für Neuankömmlinge Verträge aus, bietet Kurse im Kochen oder Nähen, in Arbeitsrecht und Mixe-Tänzen. Kein Aufstand und keine Agitation. Und doch geht es, neben den paar Pesos, um Unerhörtes: Dass man als Indigene und Muchacha „zur Kenntnis genommen“ werden will, wie Lorenza sagt. „Bislang waren wir ein Niemand.“

Vor allem in den Nischen der wabernden Stadtlandschaft haben sich die Zugewanderten eingerichtet. Viele von ihnen hausen in Abbruchhäusern in Seitengassen der kolonialen Altstadt. Schon wenige Meter hinter dem Palast der Schönen Künste beginnt touristenfreies Terrain. Die Bürgersteige sind aufgerissen, hier und da locken ein paar Spelunken mit Plastikschwingtüren, Mülltüten liegen im Rinnstein. Hinter einem der brettervernagelten Hauseingänge beginnt das Reich der Silvia de Jesús. Wer durch das Portal in den Innenhof tritt, wähnt sich in der Filmkulisse eines postapokalyptischen Thrillers. Ein paar antike Säulen halten die Reste des Fundaments zusammen, zwischen halb zerfallenen Rundbögen und rostigen Schnörkelgeländern hängen Wäscheleinen, in der Mitte prangt die wuchtige Ruine eines ehemals prächtigen Kachelbrunnens. Statt eines Daches gibt es freien Himmel und ein paar morsche Stützbalken, hier und da glitzern Pfützen mit Waschwasser.

Es war beileibe nicht der morbide Schick, der die Straßenhändlerin Mitte der Achtzigerjahre hierher gelockt hat. Man brauchte schlicht ein Dach über dem Kopf und Platz, um die Kisten zu stapeln. Doña Silvia ist Nachfahrin der ersten Generation Marias, wie die Mazahua-Händlerinnen mit den bauschigen Röcken im Stadtzentrum früher genannt wurden. Die Enddreißigerin, die schon zweifache Großmutter ist, kennt gar nichts anderes als die riesige Stadt. Mit zwei Jahren hat ihre Mutter sie im Tragetuch zum Verkaufen mitgenommen, auch später sollte sie lieber mithelfen als zur Schule zu gehen. „Das war auch viel interessanter“, erzählt sie auf einem Steinbänkchen draußen auf einem Kirchplatz, unter sanfter Sonntagssonne.

Den eigenen Ehemann habe sie beim Pfirsicheverkaufen vorm Telegrafenamt kennen gelernt und kurz darauf die erste Tochter zur Welt gebracht. Mit dem Umzug in La Mansión, wie die feudale Bruchbude heißt, wurde alles immer wackeliger. Doch seit sie sich vor ein paar Jahren an das Staatliche Indígenainstitut wandte, ist einiges in Gang gekommen. Silvia hat lesen gelernt und Spaß am Organisieren bekommen – und an der eigenen Kultur.

Auch wenn die Kinder lieber Nikeimitate als Ledersandalen tragen, legt sie Wert darauf, dass zu Hause ab und an ein paar Brocken Mazahua gesprochen werden, sodass zumindest „die Enkel sich nicht mehr schämen“. Die Verachtung lauert überall. „Wenn wir ins Kino gehen, denken die Leute, wir wollen vorm Eingang betteln.“

Auch Fausto Guadarrama ist als Mazahua in Mexiko-Stadt zu Hause. Die Probleme, mit denen er sich herumschlägt, sind jedoch anderer Natur: Der 38-Jährige ist Lyriker und sitzt zudem dem 1993 gegründeten indigenen Schriftstellerverband vor. Aus den Fenstern seines Büros in einem der klassischen Hochhäuser der Altstadt blickt man auf geschäftiges Gewimmel, auf einen buschigen Baum und viel Himmel. Lange galt Schreiben von Indigenen als Phänomen, das es anthropologisch zu erkunden galt, auch im Kulturbetrieb gab es „eher wenig Interesse“ für die literarische und lyrische Verarbeitung indigener Weltsicht – die Philosophie des Zyklischen, die Reflexion über den Schutzraum der Gemeinschaft und die Erfahrungen mit kultureller Fremde.

„Mit dem Zapatistenaufstand ist das Indigene in Mode gekommen“, sagt Gudarrama. Auch hier wieder der schmale Grat zwischen Anderssein und Dazugehören. Denn im Grunde, sagt der höfliche Mann, drehe sich auch bei ihnen alles um „die ewigen Themen aller Literatur, um Liebe, Tod und Betrug“. Indigene Kosmovision?

Alejandro Carrillo Enriquez lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Bedächtig breitet er seine Perlenkettchen, Masken und leuchtend bunten Jaguarköpfe auf einem verschlissenen Tuch aus. Na ja, das liege halt alles „hier drin“, sagt er dann und tippt sich an die Stirn. Wie auch die Kunst, klitzekleine Glasperlen zu glatten, bunten Ornamente zu kleben, zu Peyoteblüten und Maispflanzen, Stieren und Kalbsköpfen, eines der charakteristischen Handwerke der Huicholes aus den Bergen von Jaliscon.

Und er beginnt zu erzählen: Wie er die ersten achtzehn Jahre auf dem Dorf verbracht hat, ohne Schule und ohne des Spanischen mächtig zu sein. Wie er eines Tages ausgebüchst ist, voller Herzrasen, in die nächstgrößere Stadt, sich durchgeschlagen und gegen die Schüchternheit ein Buch gekauft hat. Wie er wieder zurück in das Geburtsdorf kam, um eine Familie zu gründen und Felder zu bestellen. Wie der Mais immer weniger abwarf und wie er sich schließlich, mit einem Sack Perlen im Gepäck, vor zwei Jahren auf den Weg in die Stadt gemacht hat. Wie die Frau krank geworden ist und sie nun warten müssen bis zur Heimkehr.

„Sind Sie etwa Huichol?“, fragt eine Kundin vor seinem Tischchen. „Sie sehen gar nicht so aus.“ In der Tat entspricht der korpulente Mittfünfziger, der seinen Stand auf dem Parkplatz eines großen Artesaniamarktes aufgebaut hat, nicht dem Bild, das man sich von einem Indio aus der Sierra machen mag. Er trägt Turnschuhe, die Baseballkappe ist mit der Aufschrift „Burg Eitz“ versehen. Alejandro lacht kurz auf. Doch, er habe sein traditionelles Gewand. „Aber wissen Sie, das ist in der Stadt ein wenig umständlich.“

Überhaupt kommt das Indigene an unerwarteten Orten daher. Etwa im Parque México, in einem der Bohemekieze gelegen, nach Einbruch der Dunkelheit: Auf einem runden Spielfeld, von gelben Laternen in diffuses Licht getaucht, fliegt ein brennender Ball durch die Nacht. Zehn Gestalten flitzen ihm im Halbdunkel hinterher, alle haben Stöcke mit einer flachen Spitze in der Hand. Es klackt beim Aufschlagen. Uarhukua Chanakua, das Spiel aneinanderschlagender Stöcke, nennt sich das bizarre Spiel in der Sprache der Purepecha, wie Organisator Jorge Caicedo sagt, eine Art prähispanisches Hockey, das in der Purepecharegion Michoacan noch mit Inbrunst gespielt wird.

Caicedo, der die Truppe hier seit acht Jahren für Turniere in Michoacan trainiert, ist weder Indio noch Anthropologe. Der sportbegeisterte Mittdreißiger fand lediglich, dass Spielen ein gutes Vehikel sei, der städtischen Jugend indigene Kultur nahe zu bringen, ohne in Geschwätz und Belehrung zu verfallen. Seine Spieler sind geschmeidige junge Männer im urbanen Schlabberlook und mit coolem Habitus. Doch wenn sie vom spirituellen Kicken reden, werden sie ehrfürchtig. „Es geht um zyklische Philosophie“, sagt Raúl, ein Musikstudent, der sich für Kulturen aus aller Welt interessiert und dabei zu allerhand kühnen Erkenntnissen gelangt („Es gibt eine Ähnlichkeit zwischen Mayas und Deutschen“).

Der zarte Jüngling erläutert, dass einmal rechts- und einmal linksherum gespielt wird, „irgendwie“ sollen sich dabei die Energien konfrontieren. Luis Christian, ein graziler Lockenkopf, ergänzt, dass es dabei nicht etwa ums Gewinnen gehe. Er ist seit Anfang an bei dem Club mit dem hübschen Namen „Uitzitlzin“ – anbetungswürdige Kolibris. Die Sache sei vielmehr, sagt er ernst, in einen „Wettbewerb mit dir selbst“ zu treten. Dann stürmt er mit seinem selbst geschnitzten Schläger wieder auf das Spielfeld.

Nicht mehr die Stadt, das Heimatdorf ist heute für viele das gelobte Land. „Da, wo die Nabelschnur liegt, wo wir die ersten Schritte gemacht haben“, sagt Fortino Hernández, „da bleibt die Seele.“ Egal, wie gut man sich in der Stadt eingerichtet hat, die Sehnsucht bleibt. „Hier spricht ja kaum einer Mixe“, sagt Lorenza. Wie viele andere nimmt sie so oft wie möglich den Bus und fährt über holprige Straßen viele Stunden in ihr Dorf.

Ja, natürlich möchte sie dorthin zurück, lieber heute als morgen. Auch der Nahuatldichter Natalio Hernández, der nun schon ein Vierteljahrhundert in Mexiko-Stadt lebt, träumt von der Rückkehr nach Lomas de Dorado, einer kleinen Siedlung in den Bergen von Veracruz. „Dort habe ich Leben gelernt“, sagt er in seinem sanft rollenden Spanisch, „man klettert auf den Hügel und kann über das ganze Dorf sehen.“

Ob auch Doña Silvia daran denkt, in ihren Geburtsort heimzukehren? Sie schaut ihr Gegenüber verwundert an. Höchstens mal „zum Ausruhen“. Oder bei familiären Anlässen. Sonst aber erst „bei der ewigen Ruhe, denn da kehren wir ja alle zu unseren Ursprüngen zurück“. Ihr Lächeln ist ein wenig unergründlich.

ANNE HUFFSCHMID, 37, Journalistin und Kulturwissenschaftlerin, lebt seit über zehn Jahren in Mexiko-Stadt. Die Frage nach dem Indígenasein erscheint unserer taz-Korrespondentin inzwischen ähnlich kompliziert wie die nach dem Deutschsein. Und zugleich genauso einfach: Man ist es halt