Kraftwerk der Gefühle

Hier ist die getanzte Wut zu Hause: Der Frankfurter Ballettchef William Forsythe zeigt, wie grundlegend er das Tanztheater erneuert hat

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Man wundert sich: keine Spur von Erbitterung oder Materialermüdung. Motive dazu gäbe es genug. Denn William Forsythe, Choreograf und Leiter des Balletts Frankfurt, wird die Bühnen der Stadt zum Ende der Spielzeit 2004 verlassen. Der Grund ist eine Kürzung des Budgets um 80 Prozent durch den Kulturdezernenten, was einer Abschaffung des Ensembles gleichkommt. Aber statt unter Zugzwang auf die Bühne der Kulturpolitik zu wechseln, bleibt Forsythe bei seinen besten Argumenten und produziert weiter die schönsten und intelligentesten Ballette. Und signalisiert der Stadt damit: Für seine Zukunft ist ihm nicht bange. Wie Frankfurt aber ohne Forsythe dasteht, macht er nicht zu seinem Problem.

Einmal ließ Isaac Newton einen Apfel fallen und stiftete damit ein berühmtes Bild über die Schwerkraft. So einfach beginnt auch die jüngste Choreografie von Forsythe. Eine Hand liegt auf einer Schulter, rutscht herab und pendelt. Was sich daraus aber in dem Stück für vier Tänzer in knapp zwanzig Minuten entwickelt, erreicht in etwa die Komplexität der Chaostheorie. Aus dem Gleiten der Hände, aus Griffen an Schultern, Hüften und Handgelenken, aus Ziehen und Schieben, Stoßen und Fangen entstehen verschlungene Linien, in denen man die Impulse der Bewegung wie Lichtpünktchen auf einem Bildschirm verfolgen kann und sie doch zugleich hindurchfließen sieht durch die sich berührenden und trennenden Körper. So entspannt und so leicht ist das Ineinanderflechten ihrer Kräfte, dass das Publikum zunehmend zu giggeln und zu gurren beginnt.

Dabei ist das neue Stück kaum mit assoziativen Bildern verbunden, die über das Generieren der Form hinausgingen. Auf dieser Basis der Selbstreflexion der Bewegung über ihre Herkunft und die Möglichkeiten der Verästelung, des Bruchs und der Verschiebung beruht ein großer Teil der Arbeit von Forsythe.

Dem neuen Stück folgt „Quintett“ von 1993: ein ungeheures Kraftwerk der Gefühle. Die Musik läuft als Loop, ein langsamer Walzertakt, der umso melancholischer wirkt, je öfter er sich wiederholt. „Quintett“ braucht keine Handlung wie „Romeo und Julia“ oder „Schwanensee“ und dringt stattdessen ansatzlos zum ekstatischen Kern dieser Ballettstoffe vor. Das ist heftig, leidenschaftlich, aufregend: wie sie sich ineinander werfen, aneinander klammern, auseinander fliegen, weglaufen, festhalten. Das Innerste der Gefühle erscheint bloßgelegt in einer Kenntlichkeit, die gefährlich ist, verletzbar und sich deshalb sofort mit widerborstiger Abwehr umgibt.

Für alle vier Stücke des Abends hat Forsythe auch Bühne und Licht gestaltet: Er liebt die Offenheit in Räumen und Zeitstrukturen, die das, was uns vorgeführt wird, als Ausschnitt eines Prozesses markieren, der schon vorher begonnen hat und später weitergehen wird. Ein „Duo“ tanzen Allison Brown und Jill Johnson vor dem Vorhang und in einem nüchternen Arbeitslicht, in dem auch die Zuschauer sitzen. Das ist eine ungeheure Anstrengung, die beiden müssen alles aus sich herausnehmen. Ein Härtetest: Was funktioniert noch, wenn ich alle Hilfsmittel der Inszenierung streiche? Man folgt dem angespannt und spürt, wie die beiden unsere Konzentration brauchen.

Das eben macht die besondere Kraft von Forsythe aus, die Verbindung zum Publikum auf sehr unterschiedliche Art herstellen zu können. Er choreografiert nicht nur die Tänzer, sondern auch die Blicke der Zuschauer. Er arbeitet mit ihrer Wahrnehmungsfähigkeit und steigert die Wachheit immer wieder, indem er eine Streuung der Aufmerksamkeit verlangt. In diesem Umgang mit dem Nebeneinander von Ereignissen, die ungleich in Bedeutung, Tempo und Dichte sind, ist sein Tanztheater vielen anderen Theaterformen voraus. Seit der amerikanische Choreograf 1984 die künstlerische Leitung des Balletts Frankfurt übernommen hat, sind Werke in sehr unterschiedlichen Formaten entstanden, die sich in jeder Wiederaufnahme weiterentwickeln. Im Oktober zeigte er „Kammer/Kammer“ wieder: Es ist ein Stück über zwei Geschichten, die vom Verlassenwerden und der Eifersucht erzählen. Und es ist ein Stück über die Konkurrenz zwischen Bildern und Körpern, das den Verlust des Unmittelbaren in einer telekommunizierenden Gesellschaft parallel laufen lässt zum Verlust der Liebe in den Geschichten.

Anfangs wird die Szene dominiert von Videoaufnahmen, die uns groß die Gesichter von Antony Rizzi und Dana Caspersen zuspielen: Sie reden von der Einsamkeit, der Angst und der Verletzbarkeit. Dazwischen ist irgendwo auf der Bühne eine getanzte Wut und Unruhe zu Hause, ein Toben gegen sich und andere. Je mehr aber die Verzweiflung wächst, je mehr die Energie ins Destruktive kippt, gewinnen die Körper wieder an Präsenz.

„This is fucking live tanztheater“, kommentiert Antony Rizzi, Tänzer und Assistent des Choreografen, zu Beginn, als das Ensemble noch unordentlich durcheinander wimmelt und Rizzi nebenbei ein paar Witze über die Frage reißt, ob man Ballett eigentlich verstehen kann. „If anybody needs untertitel, it’s a little extra money.“ Diese Perspektive eines Unternehmers, der den Marktwert des Live-Bonus vor dem uneinsichtigen Publikum einmal richtig rausbringen muss, verliert Rizzi auch in seiner Rolle als unglücklicher Liebhaber nicht. Es ist diese luzide Haltung, in der Bewegung zu sein und sie von außen zu sehen, in einem Medium seine Grenzen zu beschreiben, die Forsythes Werk so spannend macht.