Nur die Technik zählt

Warum Männer einen feuchten Kuss ins Ohr toll finden, ihrer Freundin aber auf keinen Fall einfach nur ihren entblößten Penis zeigen sollten – ein Ausflug in die wunderbare Welt der Sexratgeber

von ANDREAS MERKEL

„An einer Stelle sagte er, der weibliche Körper sei wie eine Geige und so, und auf der nur ein großer Musiker richtig spielen könne. Das ganze Buch war Schund, das weiß ich, aber ich hatte seitdem immer diese Geige im Kopf.“

(J. D. Salinger: „Der Fänger im Roggen“)

„Die perfekte Liebhaberin – Sextechniken, die ihn verrückt machen“ – bereits mit dem Titel der deutschen Ausgabe von Lou Pagets Bestseller wird das Dilemma beim Sex auf den Punkt gebracht. Auf der einen Seite das Verlangen nach rationaler Beherrschbarkeit und perfekter Könnerschaft, auf der anderen Seite der Wunsch nach Ekstase bis zum Wahnsinn.

Im Original heißen die beiden Bücher der amerikanischen Sex-Expertin (natürlich gibt es auch den „Perfekten Liebhaber“) dagegen einfach nur „How to Be a Great Lover“ (bzw. „How to Give Her Absolute Pleasure“). Dieses nüchterne Pathos entspricht eher Lou Pagets pragmatischem Ansatz: „Ich glaube fest daran, dass man all die Dinge, die man regelmäßig tut, auch gut machen sollte.“ Deshalb wendet sich die erfahrene Seminarleiterin gleichermaßen an Männer und Frauen, auch wenn sie ahnt, dass die beiden Geschlechter Welten trennen könnten („Männer lieben es, einen feuchten, glitschigen Zungenkuss ins Ohr zu bekommen, doch die meisten Frauen verabscheuen dies“).

Guter, ach was, „brillanter Sex mit dem einen Mann meiner Wahl“ ist trotzdem machbar. Alles eine Frage der Technik: „Achten Sie auf diese drei Punkte: Benutzen Sie den Mittelfinger oder Daumen, um ihren Klitorisbereich zu stimulieren, während die Finger der anderen Hand ihren G-Punkt streicheln und der Handballen der oberen Hand den sanften Druck aufrechterhält.“

Das klingt wie die deutsche Übersetzung der Gebrauchsanweisung zu japanischem Küchengerät, aber man blättert dennoch ganz gerne in den beiden Büchern. Das liegt vor allem an zahlreichen Zeichnungen, auf denen ein schüchtern naturalistisch gemaltes Pärchen die Techniken schulbuchmäßig demonstriert – sie vollbusig und schlank, er mit einem sympathisch durchschnittlich dimensionierten Dauerständer bestückt.

Die skizzierten Stellungen vermitteln somit das neutrale Flair von Erste-Hilfe-Schautafeln: Man ist fast ein bisschen gerührt bei der Vorstellung, wie wirkliche Menschen wohl „Lous Profi-Tipps“ zu Hause in die Tat umzusetzen versuchen. Anachronistische Bilder wie aus Sexfilmchen in den Siebzigern erscheinen vor dem inneren Auge.

Lou Paget dagegen präsentiert sich auf dem Real-Player-Video ihrer Homepage (www.loupaget.com) ganz diesseitig als eine jener durchtrainierten Geschäftsfrauen, die kein Problem damit haben, die Vorzüge ihrer Bücher in 45 Sekunden runterzurasseln – you will love it! – inklusive Verkaufshinweis bei Amazon, wo beide Ratgeber gleichermaßen dauerhaft Spitzenpositionen in den Verkaufscharts einnehmen. Der Schlüssel zum Erfolg, so die Autorin, liege schließlich in der Übertragung kapitalistischer Prinzipien auf alle Lebensbereiche: „Wie bei jedem Vorhaben werden Sie und Ihre Partnerin beim Sex umso mehr gewinnen, je mehr Sie dabei einbringen.“

Mit solchen Spruchweisheiten aus dem mittleren Management bräuchte man den Lesern von Astrid-Christina Richtsfelds „Ultimativem Erotik-Guide: So macht man brave Mädchen wild“ vermutlich gar nicht erst zu kommen. Das Buch ist in der Reihe „Men’s Health“ erschienen und wendet sich an den klassischen Leser der gleichnamigen Zeitschrift – eine Zielgruppe also, die sich außerdem über Themen wie „Bodyconcept Bauch“, den „Survival-Guide“ oder auch bloß „Das Schnarchbuch – Legenden, Auslöser, Gegenmittel“ definieren lässt. Männer, die an Sex so hochmotiviert herangehen wie an ein Auswärtsspiel bei einer schwachen Gegnerin, die immer noch „Ja“ meinen könnte, nachdem sie schon lange „Nein“ gesagt hat. Männer, die eh nur eine suchen, die was hermacht und vor dem Chef keine Widerworte gibt, die in der Küche eine Perle und im Bett eine Granate ist. Die Brave eben.

Die Autorin hat ihre Zielgruppe allerdings fest im Griff. Streng springt Frau Richtsfeld mit den Lesern um, die sich schon mal Fragen wie „Kennen Sie Ihre Frau/Freundin überhaupt?“ oder Vorwürfe wie „Behaupten Sie bloß nicht, Sie wüssten alles, wenn sogar der G-Punkt noch immer eine Streitfrage sogar unter Medizinern ist!“ gefallen lassen müssen.

Der zackige Kasernenhofton scheint bei den bauchmuskelbewehrten Survivaltheoretikern anzukommen, die Men’s-Health-Reihe ist ein Erfolg. Dafür lässt Astrid-Christina Richtsfeld ihre Truppe auch nicht im Stich, wenn diese sich auf fremdes Terrain begibt – zu den Frauen: jener eigenartigen Spezies, die offenbar Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen (Nietzsche). Die Autorin empfiehlt hier strategisches Vorgehen: Man sollte der Braven beispielsweise nie „den entblößten Penis allein“ anbieten („so stolz Sie auf ihn sein mögen“), sondern immer gleich „den ganzen nackten Körper“.

Auf der anderen Seite des Zaunes gibt sich die Journalistin Anne West unterdessen alle Mühe, dass es vielleicht doch noch klappt zwischen der Braven und dem Men’s Health-Leser. Ihre Sexbücher heißen „Gute Mädchen tun’s im Bett – böse überall“ oder „Sag Luder zu mir“ und propagieren die neue Wildheit für die Yogurette-Fraktion („Du isst Schokolade?!“ – „Ja, aber leicht muss sie sein!“).

Dirty Talking wie in der TV-Serie „Sex and the City“ ist angesagt. Im Tonfall einer nicht enden wollenden Hochglanzkolumne verbreitet die Autorin ihre Sicht der Dinge. Zum Beispiel über Schlampen: „Schlampen, wie ich sie mag und wie ich gerne eine bin, tragen rote und schwarze Unterwäsche, Strapse und schwarze Strümpfe.“ Sie rauchen im Bett und sind nicht nur „gelassen, tolerant und begeisterungsfähig“, sondern auch „edler als Girlies, liebenswerter als Zicken, aufregender als Diven, leckerer als Pizza und lebensfähiger als Emanzen“.

Natürlich könnte man Anne West endlos so weitererzählen lassen. Aber dann scheint hinter diesem ganzen Sich-selber-geil-Finden und „Wir kaufen doch alle bei H&M“-Toleranzgequatsche auch immer wieder eine grundgesunde Spießigkeit durch, die genau weiß, dass jeder Spaß seine Grenzen hat. Und allzu neurotisch – kompliziert – emanzipiert sollten „wir Weiber“ dann bitte schön doch nicht daherkommen, sondern „ganz normal“. Logisch. Schließlich geht es immer noch darum, „Männer zu mögen und von Männern gemocht zu werden“.

Und deshalb stehen richtige Weiber bei Anne West auf Altherrenerotik wie aus der Neuen Revue („Hast du jemals von dem Honig gekostet, der frisch aus einer wolligen Pussy rinnt …“) und trinken ihren Prosecco. Und was hat Diätmagarine eigentlich mit dem Ganzen zu tun?

Zugegebenermaßen erweckt das bisher Gelesene in erster Linie den Eindruck von Besser-Bumsen-Broschüren. Als wäre Sex immer noch ein heißes Produkt, dessen Vorzüge trotzdem gar nicht eifrig genug beworben werden könnten. So würde man langsam gerne mal etwas anderes lesen, das sich damit beschäftigt, was eigentlich hinter der ganzen Aufregung und jenseits aller Werbung steckt.

Nüchtern betrachtet (also „wirklich“ und „in echt“) muss ja Sex früher oder später immer bloß auf diesen einen Punkt hinauslaufen, an dem Menschen einander näher kommen, um eine wie auch immer geartete Penetration vorzunehmen. Und das mehr oder weniger Gewalttätige dieses Akts dann im Idealfall auch noch zu genießen …

Man merkt also schnell, dass der Akt des Miteinanderschlafens sowie alles, was einem daran gefallen könnte, eben diesen nüchternen Blick hinter die Kulissen schlecht verträgt. Dem Sexuellen, wenn man es wirklich hinterfragen will, haftet schnell etwas Esoterisches inne, etwas Geheimwissenschaftliches, dem man per Definition nicht zutraut, dass es von allen und jedem verstanden werden kann (und soll!).

Die Sexualtherapeutin Doris Christinger versucht in ihrem etwas schwülstig betitelten Buch „Auf den Schwingen weiblicher Sexualität – Eine Liebesschule für Frauen“ dennoch, eine existenzialistische Grundsituation des Sex anzusprechen: „Bei der körperlichen Liebe mit einem Mann öffnen wir uns und nehmen ihn in uns auf. Wir machen uns verletzlich, geben ein Stück Kontrolle auf und entfernen uns von den vertrauten Eigenschaften des Aktivseins. Diese Verletzlichkeit darf jedoch nicht mit Schwäche verwechselt werden.“

Christinger bemüht sich redlich, unsere Dualismen mittels einer Mischung aus fernöstlicher Philosophie und indianischer Mythologie aufzuheben, allerdings um den Preis einer indifferenten Ganzheitlichkeit: „Alles Weibliche beinhaltet das Männliche, und alles Männliche das Weibliche.“ Das Problem ist dann bloß, das alles auch wirklich ernst nehmen zu müssen. Beziehungsweise ernst zu bleiben bei der Vorstellung von vierzigjährigen Hausfrauen, die ihre „innere Flöte visualisieren“ oder sich vor dem „Ritual der Selbstliebe“ erst mal mit einem „Afrotanz energetisch aufladen“ und ihre „Yoni“ im Spiegel betrachten.

Trotzdem würde man sich ganz gerne mal in all dieses archaische Wissen vertiefen – um dann vielleicht irgendwann aus dieser Verinnerlichung als wahrer Zen-Meister im Bett wieder aufzutauchen. Und sich damit gleichzeitig ein für alle Mal von unserem Kulturkreis und seinem ganzen common ground zu verabschieden, den Leute wie Anne West so penetrant besetzt zu halten scheinen.

Ebenso gut könnte man sich am Ende aber auch daran erinnern, dass ja nicht zufällig alle großen Weltreligionen die ganze Angelegenheit ausschließlich mit der größten Vorsicht behandeln. Oder, wie der große Dalai Lama empfiehlt: „Sex? Am besten gar nicht. Auch keine Masturbation. Manchmal habe ich mich allerdings schon gefragt, was Sex wohl für eine Erfahrung sei. Es sieht nach einer Menge Ärger aus, nach Qual und Schweiß.“