von disco zu disco
: In der Bahn: Gemischte Gesichter, bekannte Gefühle

An einem Tag nach einer Nacht

In der guten alten Zeit gab es einen Werbespot der Bahn, der die Trapezartisten in der Bahnhofskuppel zeigte, schwerelos niemals einen Anschluss verpassend. Eine wunderbare, poetische Metapher für diese Art des Reisens wie auch für inspiriertes Auflegen. Aber wahrscheinlich mögen nur noch Fools und Narren diese alten Images. Die kontemplative Romantik des Reisens ist vorbei. Wer kennt noch die Kampagne mit den Liebenden, die ihren Abschied stundenweise hinauszögerten, weil immer wieder ein Intercity kommen würde? Demnächst macht dieses Knutschen nach der Deadline 45 Euro zusätzlich auf der Uhr.

Die Reform kommt und mit ihr der Rabatt auf den Rabatt. Unbeschreibliche Vergünstigungen, allerdings nur für clevere Sparfüchse und geile Geizhälse, nicht für disziplinlose Freaks, die sich wahllos in Züge werfen wollen. Spontan, ohne dieses besondere Prädikat, das an der Tür des Abteils zu heften hat: eine Reservierung.

„Reservierung“ hat so einen ähnlichen Hautgout wie „Türsteher“. Ähnlich wie diese entwickeln Besitzer einer Reservierung manchmal ein wütendes Territorialverhalten – weil sie im totalen Recht sind bzw. weil sie dafür bezahlt werden.

Für zurückgelehnte Leute sind solche Spielchen nichts. Es geht darum, ein geeignetes Abteil für verschiedene Zwecke zu finden, und das geht bestimmt nicht durch eine Reservierung. Man muss es immer wieder neu finden. Manchmal, unterwegs zu einem Auftritt, kann Gesellschaft ganz nett sein.

An einem „Tag“ nach einer „Nacht“ ist ein Einzelabteil aber eindeutig angenehmer. Besonders wenn man sich was vorgenommen hat. Weil es für DJs in Zügen immer eine ganze Menge Zeug zu tun und zu verteilen gibt, lässt sich sehr leicht eine für Fremde wenig einladende Atmosphäre herstellen. Unrasierte Typen mit Sonnenbrille in einer Qualmwolke, auf allen Sitzen Berge von Zeitungspapier, beide Klapptische mit Getränken und Laptop zugestellt, dazu eine mitten im Abteil geparkte Sackkarre mit undefinierbaren Kisten – wer will da schon einsteigen?

Es ist die ältere Generation, die die größere Unbefangenheit an den Tag legt. Oder die sich, besser gesagt, vom Territorialgepose junger Männer nicht weiter beeindrucken lässt, sondern den Wohlstandsbauch an der Sackkarre vorbeiquetschend sich direkt gegenüber am Fensterplatz niederlässt.

Neugierig wird sofort das Gespräch eröffnet:

„Wo fahre Sie denn hin?“

„Nach Köln.“

„Und wo kumme Sie her?“

„Aus Zürich.“

„Ah, da war ich auch schon emol.“ Der Senior ist Frankfodder, war im öffendlische Dienst und arbeitet seit der Pensionierung als freier Autovertreter:

„Isch kumm jo och viel herum. Und in was für ner Branche sind Sie so dädisch?“

„Ich bin so ’ne Art Musiker.“

„Ja spielen Sie denn in einer Band oder so was?“

„Das hab ich eher früher gemacht. Jetzt bin ich hauptsächlich DJ. Kennen Sie das, DJs?“

„Ah jo kenn ich die Beegees, geh fott. Ich hab sogar ein Video von dene Beegees.“

Und wieder die Gewissensfrage: Soll man den netten Opa jetzt unbedingt blamieren? Es ihm zu erklären versuchen? Oder ihm einfach Bestätigung geben? Naja, im Grunde hat er ja irgendwie Recht. Also sagt man:

„Mhm, jaja, die sind gut. Genau. Und so was in der Art mache ich halt auch.“

Als er in Mannheim ausgestiegen ist, wird sein Platz direkt von einem jungen Typen in grauem Anzug und kariertem Hemd eingenommen, der sofort auch seinen Laptop aufklappt und hektisch zu tippen beginnt. Revierpsychologisch normal. Manchmal blickt er auf und sieht kurz herüber. Und nach einiger Zeit kommt man doch ins Gespräch. Er fragt:

„Sind Sie DJ?“

„Ja, genau.“

„Ich bin im Marketing von der LBS.“

Und fast protestierend:

„Das ist aber auch gut!“

Ihn interessieren vor allem die Weibergeschichten über DJ-Groupies. Er wirkt enttäuscht über die familienväterlichen Auslassungen zu diesem Thema aus dem Mund eines ihm allerdings unbekannten „bekannten“ DJs. In Mainz verlässt er das Abteil, es ist nicht klar, ob er auch aussteigt.

Wieder allein im Abteil. Man macht es sich so richtig bequem. In gleichmäßigem Rhythmus fliegen die Sektionen der Sonntags-FAZ auf den gegenüberliegenden Fensterplatz. Gleich wird man die Füße darauf ausstrecken und den Laptop auf den Schoß nehmen. Man ist jetzt in der Verfassung, eine taz-Kolumne zu schreiben. Es ist alles da: Kaffee, Wasser, Zigaretten, innerer Frieden, Versenkung und ein Tatendurst, wie man ihn eben nur manchmal, am Tag danach, hat.

Da erscheint ein mächtiger Schatten vor der Schiebetür, reißt sie auf, poltert herein. Eine Seniorin mit einem Glas Weißwein. Sie bückt sich über die Kiste nach dem zerfledderten Zeitungshaufen, packt ihn mit einem einzigen Griff und wirft ihn auf den Sitz neben der Tür. Dann stellt sie das Glas auf dem Klapptisch ab, übersteigt mit einem weit ausholenden Schritt die Kiste, lässt sich mit einem tiefen Seufzer in den Sitz platschen und schlägt mit einer großen Geste die Abendzeitung auf. Nach wenigen Minuten beginnt sie, eigentümlich zu keckern. Dann fragt sie mich:

„Schreiben Sie?“

Als hätte sie es geahnt.

HANS NIESWANDT