„Wer sind die Terroristen?“

ln seinem Beitrag zu „11’09’’01“ erinnert Ken Loach an den 11. September 1973, den Tag, an dem das chilenische Militär gegen die Regierung Salvador Allendes putschte. Ein Gespräch mit dem britischen Filmemacher über Trauerökonomien, die Außenpolitik der USA und zugespitzte Formen der Montage

Interview CRISTINA NORD

taz: Herr Loach, warum schien es Ihnen so wichtig, an den Militärputsch zu erinnern, der am 11. September 1973 in Chile stattfand?

Ken Loach: Weil sich dadurch die Position der USA in der Welt zeigt, ihre aggressive Außenpolitik und ihr seit dem Zweiten Weltkrieg andauerndes Bestreben, die Welt wirtschaftlich und politisch zu beherrschen. Die Koinzidenz der beiden Daten macht das deutlich. Die USA geben vor, für Freiheit und Demokratie zu stehen, aber ihre Handlungen bewirken das genaue Gegenteil. Die USA haben dazu beigetragen, dass in Chile eine Militärdiktatur Fuß fassen konnte. Sie zerstörten die Demokratie in Nicaragua und in anderen mittelamerikanischen Staaten

Nun ging es in „11’09’’01“ zunächst einmal darum, sich mit dem Attentat vom 11. September 2001 zu befassen. Vor diesem Hintergrund muss Ihre Episode sehr polemisch wirken.

Die heuchlerische Haltung der USA ist nicht hinzunehmen. Sie macht eine Menge Menschen auf der Welt wütend. Die USA beherrschen die Medien, ihre Sicht der Dinge dominiert. Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in England stößt man im Fernsehen und in den Zeitungen immer wieder auf den Begriff „war on terrorism“. Das ist Unsinn. Wie bei der Kirche, die einen Krieg gegen die Sünde führt: Es sagt nichts aus.

Ist Film als Medium besonders geeignet, wenn es darum geht, vergessene politische Ereignisse wie den Putsch in Chile zu erinnern und politische Zusammenhänge darzustellen?

Das ist widersprüchlich. Einerseits bietet das Kino der US-amerikanischen Propaganda ein Forum, und in den meisten kommerziellen Filmen ist Ideologie enthalten. Ein offensichtliches Beispiel ist „Black Hawk Down“, ein Film, der die Geschichte der Intervention in Somalia umschreibt. Andererseits hat Film die Fähigkeit, über eine bestimmte Zeit nachzuhallen. Auch für einen kleinen Film ist es demnach möglich, Fragen aufzuwerfen, die Erinnerung aufzuwühlen. Und die European Film Academy hat hart gearbeitet, um den europäischen Film zu fördern. Es gibt also nicht nur schlechte Nachrichten. Aber das Gesamtbild ist öde.

So wie Sie es darstellen, ist das Chile der Allende-Zeit zwar nicht das Land, in dem Milch und Honig fließen, aber doch das Land, das Milch und Bildung für alle bietet. Idealisieren Sie?

Nein. Es ist Vladimir Vegas Sicht auf die Ereignisse, er hat sie erlebt [Vladimir Vega ist der Hauptdarsteller, Anm. d. Red.]. Das große Projekt von Allendes Regierung bestand darin, dem chilenischen Volk die politische und wirtschaftliche Macht dadurch zu verleihen, dass Industrie und Dienstleistungssektor öffentliches Eigentum wurden. Das war ein sehr geradliniges politisches Programm. Ich habe es nicht idealisiert. Vor und nach Allendes Wahl gab es Unruhen, die von den USA angestiftet wurden.

Aber es gab auch deswegen Unruhen, weil die Transportarbeiter zum Streik aufriefen.

Die Besitzer der Lastwagen stellten ihre Dienste ein. Sie waren von den USA infiltriert, sie gehörten nicht zur Arbeiterklasse, sondern zum Kleinbürgertum.

An einer Stelle des Films sagt Vladimir Vega: „Ich wurde als Terrorist bezeichnet.“ Glauben Sie, dass der Begriff des Terroristen kontextbezogen ist, dass wer für die einen ein Terrorist, für die anderen ein Befreiungskämpfer ist?

Das ist ein alter Witz, nicht wahr? Aber im Ernst: Sicher ist es so. Wie würden Sie denn einen Angehörigen der Contra in Nicaragua nennen? Ronald Reagan sagte: „Ich bin ein Contra.“ Die Contras waren Söldner, die Krankenhäuser und Schulen angriffen und für die grausamsten Verbrechen verantwortlich waren. Wie würden Sie die amerikanischen Soldaten nennen, die Vietnam verwüsteten und Kambodscha bombardierten? Wer sind die Terroristen? Ich glaube, die Antwort hängt immer damit zusammen, auf welcher Seite man steht.

An einer anderen Stelle hört man eine von George W. Bushs Reden. Er betont, dass mit den Türmen des World Trade Centers auch die Freiheit angegriffen worden sei. Unmittelbar im Anschluss sieht man, wie der Moneda-Palast in Santiago de Chile bombardiert wird. Warum wählen Sie diese zugespitzte Form der Montage?

Wegen der Parallele. Die Bilder von dem Flugzeug, das über dem Palast fliegt und Bomben abwirft, haben eine große Ähnlichkeit mit den Bildern vom 11. September 2001. Indem ich diese Ähnlichkeit zeige, verstärke ich den Gedanken, dass der Angriff auf den Moneda-Palast ein terroristischer Akt war. Angeregt und bezahlt von den USA, ausgeführt an einem 11. September. An einem anderen 11. September ernteten die USA, was sie gesät hatten.

Vladimir Vega schien mir voller Empathie für die Opfer, die die Anschläge auf das World Trade Center forderten.

Sicher. Es wäre unmenschlich, wenn man auf die Trauer der anderen nicht reagierte. Das Problem liegt darin, dass die Trauer der einen mehr zählt als die der anderen. Die Namen derer, die im World Trade Center umkamen, sind bekannt. Die Feuerwehrleute werden als Helden behandelt, was sie, da bin ich mir sicher, auch waren. Aber die Opfer des Terrors in Chile bleiben anonym. Das gilt noch mehr für die Opfer der Bombardierungen in Afghanistan. Waren das keine Mütter und Kinder?

Während Sie drehten, wussten Sie nicht, was die anderen Regisseure und Regisseurinnen vorhatten. Sind Sie zufrieden mit den Ergebnissen?

Manche der Filme gefallen mir sehr gut, der afrikanische zum Beispiel. So wie das Projekt konzipiert war, war von Anfang an klar, dass die fertigen zwei Stunden recht divers ausfallen würden. Gerade das ist ja das Spannende. Was am 11. September 2001 geschehen ist, wird von den USA manchmal zu Propagandazwecken missbraucht. Es ist daher sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass es viele andere Perspektiven gibt.