Wem die Ohren wachsen

Leise ist sexy, Stille ist stark: Die amerikanische Indieband Low verabschieden Hektik, Nervositätund Alltag, stellen ein paar Grundprinzipien des Rock in Frage und machen Melodien zu Tragflächen

„Wenn man bereit ist, sich auf die Musik einzulassen, berührt sie im Innersten“

von CHRISTOPH WAGNER

„Totale künstlerische Kontrolle ist nicht immer gesund. Manchmal muss man einfach blind ins Unbekannte springen, um Neuland zu erreichen“, kommentiert Gitarrist und Sänger Alan Sparhawk die Entstehung des neuen Albums seiner Gruppe Low. „Trust“ lautet der Titel, und Vertrauen mussten die drei Mitglieder der Band in die Mixerqualitäten des Londoner Studiogurus Tchad Blake auch haben, übergaben sie ihm doch die frisch eingespielten Bänder ohne Auflagen zur Endabmischung. Er könne damit machen, was er wolle.

Solche Risikobereitschaft zeichnet das Trio aus Duluth, Minnesota, seit Beginn seiner Karriere aus. 1993 gegründet, gingen die drei von Anfang an eigene Wege. Zusammen mit seiner Frau Mimi Parker, die für den Gesang und die Schlagzeugarbeit verantwortlich ist, sowie Bassist Zak Sally entwickelte Sparhawk ein eigenwilliges Konzept, das sich gegen die Imperative der Rockmusik stellt. Denn Low steht zuerst einmal für „low speed“ und „low tempo“. Hektik und Nervosität sind aus ihrer Musik verbannt. Eine ruhige Ausgeglichenheit herrscht vor. „Der entscheidende Punkt ist, dass ein anderes Zeitmaß gesetzt wird“, erläutert Sparhawk die Philosophie dahinter. „Wenn das gelingt, nimmt man die Musik anders wahr. Einzelne Worte und Töne bekommen mehr Gewicht, größere Bedeutung und gehen nicht im Redeschwall und in Klangkaskaden unter.“

Eigenartigerweise stand der amerikanische Avantgarde-Komponist Morton Feldman bei dieser Einsicht Pate. „Seine Pianostücke funktionieren auf diese Weise“, erklärt der Low-Gitarrist. „Würden sie mit großer Geschwindigkeit gespielt, wären sie nichts als ein dissonantes Chaos. Langsam gespielt, entfaltet sich zwischen zwei Akkorden eine wunderbare Spannung und jeder Ton wird zu einem Ereignis.“

Die Entdeckung der Langsamkeit legte weitere unorthodoxe Schritte nahe. „Wir experimentierten mit endlosen Bordunklängen, repetetiven Mustern und zeitlupenhaften Klangverschiebungen“, beschreibt Sparhawk den Erkenntnisprozess. „Wir fanden heraus, dass solche Musik leise am besten klingt. Später bastelten wir ein paar Songs und wurden uns der Kraft bewusst, die in der Stille liegt. Leise Musik bewirkt, dass das Publikum aufmerksamer zuhört. Die Stille wirkt wie eine Verstärkeranlage, wenn man die Lautstärke zurückdreht, werden die Ohren größer.“ Seitdem spielt Mimi Parker ihr Schlagzeug zumeist mit Besen und lässt die Becken glockenhell klingen, während Sparhawk flächige Akkorde unterlegt, die bunt schillern.

Sechs Alben sind bisher entstanden, zwei davon unter Mithilfe von Steve Albini, dem ehemaligen Soundingenieur von Nirvana. Mehr und mehr schälte sich dabei eine träumerisch-melancholische Rockmusik heraus, die melodie- und songorientiert ist, sich aber dennoch durch ein feines Gespür für Klänge und Soundtexturen auszeichnet und durch ihre Ernsthaftigkeit einen existenziellen Ton anschlägt. Ganz unverstellt wird über urmenschliche Erfahrungen gesungen: Liebe, Freundschaft, Vertrauen. Dabei werden die Worte eher assoziativ eingesetzt, wie in modernen Gedichten. „Wenn man bereit ist, sich auf die Musik einzulassen, berührt sie einen im Innersten“, meint Sparhawk. „Es ist leichter, die Zuhörer mit unseren kryptischen Texten in eine bestimme Richtung zu lenken, als wenn wir Geschichten erzählen oder direkte inhaltliche Aussagen machen würden. Unsere Lieder sind kleine Momentaufnahmen – Schilderungen von einfachen Dingen, die eine besondere Stimmung erzeugen.“

Der zumeist zweistimmige Gesang, der Zusammenklang von männlicher und weiblicher Stimme, wird dabei zum eigentlichen Vehikel der Musik, die Melodien zur Tragfläche der Lieder. „Vor ein paar Jahrzehnten basierte noch jede Art von Pop auf Gesang. Die Vokalmelodie stand im Vordergrund, alles andere diente der Begleitung“, stellt Sparhawk fest. „In den später Sechziger- und Siebzigerjahren rückte dann der instrumentale Teil der Musik immer mehr in den Vordergrund. Wenn Musiker faule Songwriter waren, dudelten sie endlos auf ihren Instrumenten herum. Ich bin ein Fan der alten Schule der Popmusik, wo der Gesang die Richtung vorgibt – was allerdings nicht bedeutet, dass wir die Begleitung vernachlässigen.“ Im Gegenteil: Low arbeitet lange und intensiv an den richtigen Backgroundklängen, die eine entscheidende Rolle in ihrer Beziehung zum Text spielen. Sie können die Worte illustrieren oder verschlüsseln, herausheben oder vernebeln. Dabei ist auffällig, dass die ersten beiden Alben der Gruppe eher soundorientiert waren, der vokale, liedhafte Aspekt dann immer deutlicher hervortrat. „Wir drifteten ganz ungewollt in diese Richtung, weil dort offenbar unsere Stärken liegen“, meint Sparhawk. „Phil Spektor wurde zu unserem Vorbild, auch Roy Orbison und die Beatles. Deren Songs werden alle vom Gesang getragen und sind gleichzeitig mit einer fantastischen Begleitung unterlegt, was sich auf intelligente Weise zusammenfügt.“

Kritiker haben oft versucht, das Sonderbare von Low durch ihre Herkunft zu erklären. Sie meinten, dass sich in ihrer Musik die Weite der Landschaft und das weniger hektische Lebensgefühl des amerikanischen Mittleren Westens spiegelt. Alan Sparhawk ist sich solcher Analogien nicht sicher: „Wir sind ziemlich normale Leute, die hart arbeiten. Meistens ist unser Leben hektisch und chaotisch, aber so scheint die moderne Existenz eben zu sein. Man wünscht sich mehr Ruhe und die Fähigkeit, die Dinge einfach geschehen zu lassen. Aber das sind Wunschträume. Vielleicht drückt sich dieses Bedürfnis in unserer Musik aus.“

Low: Trust (Tugboat Records/Rough Trade). Tournee: 29. 11. Berlin, 30. 11. Hamburg, 2. 12. Dresden, 3. 12. Köln, 4. 12. Frankfurt, 7. 12. Stuttgart